Schicksalspfade
er war nicht auf die Bitte vorbereitet, die Vorik an ihn richtete.
»Sir«, sagte der junge Mann respektvoll und verlieh seinen Worten gleichzeitig einen gewissen Nachdruck, »Sie sind mein Mentor gewesen. Sie haben mir dabei geholfen, mit den Unbilden des Pon Farr fertig zu werden. Ich verdanke Ihnen die Verbesserung meiner Meditationstechnik. Mit Ihrer Unterstützung hielt ich den Belastungen während des langen Transfers stand. Glauben Sie nicht, dass ich eine Menge lernen könnte, wenn ich an Ihren Erfahrungen teilhabe?«
Tuvok schwieg einige Sekunden lang und dachte über Voriks Worte nach. Es stimmte tatsächlich: Viele Erfahrungen, die er während seines Lebens gemacht hatte, konnten für einen jungen Mann lehrreich sein. Kaum ein anderer Vulkanier hatte so viel erlebt wie er, sich mit so vielen unterschiedlichen Dingen befasst. Wenn Vorik davon erfuhr, so mochte seine Moral eine Stärkung erfahren. Möglicherweise galt das auch für alle anderen Mitglieder der Gruppe. Vielleicht hatte er nicht das Recht, ihnen die Ereignisse seines Lebens
vorzuenthalten.
Tuvok beschloss, dem Drängen seiner Gefährten
nachzugeben.
Er ließ einen ernsten Blick über die erwartungsvollen Gesichter schweifen und sagte schlicht: »Na schön.«
14
»Steh endlich auf, Tuvok. Der Morgen ist bereits halb vorbei.«
Tuvok hob den Kopf vom Kissen und blickte aus dem
Fenster. Er sah T’Khut, Vulkans Schwesterplaneten, dicht über den Bergen, groß und rot. Der Morgen graute erst und die Dunkelheit der Nacht verhüllte noch den Boden der Wüste.
Das überraschte ihn nicht. Seine Mutter beendete die
Nachtruhe Stunden vor Sonnenaufgang und hielt es für reine Zeitverschwendung, bis zum Tagesanbruch zu schlafen. Tuvok ließ den Kopf aufs Kissen sinken und schloss die Augen, obgleich er um die Sinnlosigkeit dieser Verzögerungstaktik wusste. Seine Mutter würde in der Nähe bleiben, bis er schließlich aufstand.
Doch an diesem Morgen gelang es der Vernunft nicht, ihn aus dem Bett zu treiben. Er hatte auf wundervolle Weise geträumt und wollte sich erneut dem Schlaf hingeben, um in die Welt der verlockenden Visionen zurückzukehren. Was war so angenehm gewesen? Eine sanfte Stimme sang in seinem Kopf ein leises, leidenschaftliches Lied, von dem er sich unerbittlich angezogen fühlte. Er schritt durch einen langen, reich verzierten Korridor, ließ sich von dem Sirenengesang leiten, der hinter einer mit Brokatvorhängen geschmückten Tür erklang…
»Ich möchte mich nicht wiederholen, Tuvok.« Diese Stimme war nicht sanft, sondern so hart wie Diamant. Sie schnitt so leicht durch seine visionäre Welt wie ein Messer durch eine reife Frucht.
»Ich bin wach, Mutter«, sagte Tuvok und trotzte der Vernunft erneut, indem er hoffte, dass diese Antwort seine Mutter zufrieden stellte und sie veranlasste, das Zimmer zu verlassen.
Dann hätte er den Weg durch den Flur fortsetzen und sich der singenden Stimme weiter nähern können.
»Ich habe dich nicht aufgefordert, wach zu werden. Du sollst aufstehen.«
Tuvok hob die Lider und richtete sich abrupt auf. Seine Mutter hatte in einem ganz besonderen, förmlichen Tonfall gesprochen, den er nicht ignorieren durfte. Die Älteste eines Hauses konnte diesen Ton jedem beliebigen Familienmitglied gegenüber benutzen, aber T’Meni war nicht die Älteste Mutter
– diese Ehre gebührte Tuvoks Großtante Elieth. Warum hatte seine Mutter jenen Tonfall verwendet, noch dazu so früh am Morgen?
Er stand auf und musterte T’Meni in der Dunkelheit. Ein rosaroter Lichtfinger tastete über die Berge hinweg nach der Wüste und erreichte auch Tuvoks Zimmer. Es war spärlich eingerichtet, denn er mochte ein einfaches, schlichtes Erscheinungsbild und wollte sein Leben nicht mit der
Anhäufung von materiellen Dingen komplizieren.
Seine Mutter stand vor ihm, groß und schlank, den Kopf hoch erhoben. Die schwarzen Augen funkelten unter den elegant geschwungenen Brauen und die dunkle Haut schien im
allmählich zunehmenden Licht zu glänzen. Wenn Tuvok seine Mutter ansah, dachte er oft daran, dass er ihr mehr ähnelte als seinem Vater. Er hatte T’Menis fein geschnittenes Gesicht, ihre zarten, spitz zulaufenden Ohren und den runden
Haaransatz. Mit dreiundneunzig Jahren war sie noch immer sehr attraktiv und außerdem zeichnete sie sich durch eine starke Persönlichkeit aus. Zwar kam der Titel ihrer Tante Elieth zu, aber die meisten Familienmitglieder begegneten T’Meni mit dem Respekt, den die Älteste
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