Schicksalspfade
Vermutlich hatten sie erwartet, ihn öfter zu sehen.
»Das Leben eines Asketen ist nicht leicht«, sagte sein Vater.
»Es wird dich hart auf die Probe stellen.«
»Genau deshalb habe ich mich dafür entschieden«, erwiderte Tuvok. »Nach dem Leben bei Menschen suche ich Läuterung durch Verzicht und Mühe. Ich bin weich und bequem
geworden, brauche deshalb die Disziplinen des Kolinahr.«
Und so kam es, dass Tuvok nach einem Monat bei seinen Eltern – einer Zeit, in der sie viel miteinander teilten – den Tempel von Amonak betrat und den Weiheeid leistete. Er war nun an die Disziplinen des Kolinahr gebunden und gewann noch stärker als vor einem Monat, als er das Heim seiner Eltern erreicht hatte, den Eindruck, endlich zu Hause zu sein.
Tuvok verbrachte sechs Jahre im Sanktuarium von Amonak und während dieser Zeit begann er damit, seine Instinkte unter Kontrolle zu bringen, was er immer für möglich gehalten hatte.
Ihm wurde klar, wie unbeherrscht er während der ersten dreißig Jahre seines Lebens gewesen war, als Verwirrung und Unbehagen so dicht unter der Oberfläche brodelten. Er schwor sich, alles in seiner Macht Stehende zu versuchen, um diese verräterischen Gefühle zu unterdrücken.
Er wohnte in einer kleinen Zelle, die kaum drei Meter durchmaß, und schlief auf einer Matte. Die dicken, weißen Wände bestanden aus vulkanischem Sandstein, der Hitze und Geräusche fern hielt. Die Einrichtung bestand nur aus einem kleinen Tisch zum Schreiben und einer isochromatischen Lampe. Kein Schmuck zierte die Wände und auf dem Tisch fehlten Dinge, die an sein früheres Leben erinnerten. Ein solches Maß ein Einfachheit schrieben die Brüder und
Schwestern von Amonak nicht vor; es gab Zellen, die
komfortabler eingerichtet waren und auch Ziergegenstände aufwiesen. Die Priester verlangten eine Umgebung, die
»möglichst wenig von den geistigen Dingen ablenkte«. Sie waren weise genug, um zu erkennen: Es gab auch Personen, die völlige Schmucklosigkeit als Ablenkung empfanden.
Tuvok lehnte jeden noch so kleinen Luxus ab und war der Ansicht, dass alle Studenten des Kolinahr so leben sollten wie er, mit einem Mindestmaß an leiblichem Wohl, sodass die ganze Aufmerksamkeit dem Cthia gewidmet werden konnte.
Aber die Entscheidung über solche Dinge stand nicht ihm zu, und er fand sich mit der Tatsache ab, dass die Weisheit der Priester größer war als seine. Wenn sie ein wenig mehr Komfort zuließen, so gab es dafür sicher einen guten Grund.
Er stand jeden Morgen bei Sonnenaufgang auf und dachte daran, dass ihn seine Mutter noch immer für einen
Langschläfer gehalten hätte. Er aß erst etwas, nachdem er zwei Stunden lang allein in seiner Zelle meditiert hatte.
Dann leistete er den anderen Brüdern und Schwestern bei einem einfachen Frühstück Gesellschaft, das aus Brot und Obst bestand. Daran schloss sich ein meditativer Spaziergang in den Hügeln an. Wenn T’Khut am Himmel stand, wurden eine
besondere Anrufung gesungen und ein uraltes Gebet
gesprochen, damit T’Khut am Firmament blieb. Natürlich kannten sie alle das physikalische Kräfteverhältnis zwischen den beiden Planeten und wussten, dass T’Khut nicht einfach so auf Vulkan herabfallen konnte. Aber ihre Vorfahren hatten nicht über solche Kenntnisse verfügt und befürchtet, dass T’Khut vom Himmel stürzen mochte, um allen Bewohnern
Vulkans feurigen Tod zu bringen. Die an T’Khut gerichteten Beschwörungen galten als besonders eindrucksvoll und selbst die heutigen Priester lobten ihre majestätische Eleganz.
Die zweite und letzte Mahlzeit des Tages wurde am späten Nachmittag eingenommen und war ebenso schlicht wie die erste: erneut Brot und Obst, außerdem eine Suppe. Sie folgte dem Unterricht im Tempel und ging gemeinsamen
Meditationen am Abend voraus. Später zogen sich alle in ihre Zimmer zurück, um zu schreiben, zu lernen und zu schlafen.
Nur an einigen heiligen Tagen im Jahr kam Veränderung in diese eherne Routine, darunter Suraks Geburtstag und die Weihe des sakralen Bergs Seleya. Jene Feiern blieben ruhig und gesetzt, wie es sich geziemte. Meistens beschränkten sie sich darauf, den Zeremonien Musik hinzuzufügen, für
gewöhnlich die Klänge von vulkanischen Harfen.
Sechs Jahre verbrachte Tuvok auf diese Weise. Er studierte das Kolinahr und fühlte dabei einen Frieden wie nie zuvor in seinem Leben. Die Richtigkeit seiner Entscheidung beruhigte ihn und er schwor sich, den Rest seiner Existenz den mentalen Disziplinen zu
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