Schicksalspfade
Bezeichnung ›Seelenführer‹ hin.«
»Ich bin verletzt. Du wirfst mir vor, meinen Aufgaben nicht gerecht zu werden.«
»Das stimmt. Du hilfst mir nicht.«
Die Schlange hob den Kopf und erneut kam ihre gespaltene Zunge zum Vorschein. »Früher hielten die Leute meine Zunge für giftig«, sagte sie. »In Wirklichkeit handelt es sich dabei um ein Sinnesorgan. Ich spüre eine große Präsenz vor mir, eine hoffnungslose Masse aus Verwirrung. Ich spüre auch, dass sie alles versucht, um der Entscheidung auszuweichen. Dazu ist sie sogar zu einem völlig sinnlosen Wortgefecht mit einem Produkt der eigenen Phantasie bereit. Ich sehe wenig Hoffnung für diese Präsenz. Wenn du mich jetzt bitte entschuldigen würdest… Ich muss meine Mahlzeit verdauen.«
Daraufhin rollte sich die Schlange zusammen und ließ den Kopf sinken, dazu bereit, die nächsten Tage in Lethargie zu verbringen.
Chakotay nahm auf dem Boden Platz und beobachtete das Tier. Irgendwo in den Worten, die das Reptil an ihn gerichtet hatte, musste sich eine Antwort verbergen, aber er fand sie nicht. Wenn man bei einer Visionssuche nicht mehr Hilfe bekam, dann konnte er nicht verstehen, warum sein Volk ihr so große Bedeutung beimaß. Erlebten alle Stammesangehörigen eine solche Enttäuschung bei ihren inneren Reisen, nur um später von einer angeblich sehr zufrieden stellenden und nützlichen Erfahrung zu berichten? War alles eine Farce, ein Ritual, das um seiner selbst willen durchgeführt wurde, wie das bei den meisten Ritualen des Stammes der Fall sein mochte, wie Chakotay vermutete? Hatte die Visionssuche überhaupt keinen immanenten Wert?
Er stand auf. »Na schön«, teilte er der stillen Lichtung mit.
»Ich bin bereit zu gehen.«
Nichts geschah. Er stand weiterhin auf der Lichtung, hörte das Plätschern des Baches und sah die zusammengerollte Schlange. Nun, das war zwar lästig, aber kein echtes
Hindernis. Er kannte diesen Ort. Er hatte ihn selbst entdeckt und wusste, welcher Weg nach Hause führte.
Chakotay drehte sich um und suchte nach dem schmalen Pfad zwischen den Farnen.
Aber ein solcher Pfad existierte nicht. Am Rand der Lichtung war es zu subtilen Veränderungen gekommen: Die Pflanzen wuchsen nun dichter beieinander, bildeten eine grüne Barriere.
Chakotay versuchte, sie zu durchdringen, fand aber keine Lücke in der dornigen Masse.
Er konnte die Lichtung nicht verlassen. Damit hatte er nicht gerechnet, und er fragte sich nun, wie man eine Visionssuche beendete. Er wusste, dass sein Körper im Habak des Hauses saß und eine Hand auf dem Akoonah. Aber in dieser geistigen Welt gab es kein Akoonah, keine Möglichkeit, die Vision zu beenden.
Er nahm wieder Platz und sah zur Schlange. Sie war völlig reglos. Ihre Körperfunktionen hatten sich verlangsamt, damit die ganze Kraft der Verdauung des Fisches gewidmet werden konnte. Sie befand sich in ihrer eigenen Version einer Trance.
Chakotay war auf sich allein gestellt.
Das, so begriff er, schien die Botschaft zu sein, die ihm alle vermittelten. Niemand würde ihm bei dieser wichtigen
Entscheidung helfen. Niemand gab auch nur andeutungsweise zu verstehen, welcher Weg besser war. Er musste ganz allein wählen.
Diese Erkenntnis schien ein schweres Gewicht von seinen Schultern zu nehmen und Chakotay fühlte Euphorie, wie kurz vor der Ankunft an diesem geistigen Ort.
Das Grün des Dschungels verschwamm und wieder tauchten kaleidoskopische Muster auf. Er schien zu schweben, fühlte sich völlig gewichtslos. Mehr war nicht nötig? Ging es allein darum, tief im Innern zu begreifen, Herr des eigenen
Schicksals zu sein? Es schien so einfach… Doch dann fiel ihm ein, dass ihm ein solches Konzept bis vor wenigen Sekunden völlig fremd gewesen war.
Die Lichtung verschwand und Farben wogten, verdichteten sich und gewannen feste Substanz. Ein angenehmes Summen wurde lauter und lauter, bis…
Chakotay öffnete die Augen und fand sich im Habak wieder, umgeben von Artefakten, die sein Volk seit tausenden von Jahren begleiteten. Seine Hand ruhte auf dem Akoonah und langsam zog er sie zurück. Noch immer erfüllte ihn Euphorie und er hätte dieses Gefühl gern festgehalten. Die Stille der Lichtung durchdrang seine Sinne und voller Zuneigung dachte er an die zusammengerollte Schlange. Sie allein gelassen zu haben… Dadurch fühlte er sich irgendwie leer.
Wie seltsam.
Er stand auf und ging zu seinem Vater, der im Garten
arbeitete. Jetzt im Hochsommer gab es dort viel Obst und Gemüse. Das
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