Schicksalspfade
dass er das Ende der Musik gar nicht bemerkte. Und so geschah es, dass seine Mutter die Tür öffnete und ihn in der Mitte des Raums sah. Sie beobachtete, wie er immer wieder vergeblich versuchte, die im Schein der Nachmittagssonne funkelnden Stäubchen einzufangen.
Sie lachte, ein Geräusch, das ebenso wundervoll klang wie ihr Gesang. Harry sah auf und lachte ebenfalls.
»Wie hast du dein Bett verlassen?«, fragte sie fröhlich, doch Harry verstand sie nicht. Er verstand nur die Freude und Liebe, die wie ein Sonnenschein ganz besonderer Art von seiner Mutter ausgingen.
Jeder Geburtstag war ein großes Fest. Großeltern, Tanten, Onkel, Cousins, angeheiratete Verwandte und Freunde
besuchten Kims Zuhause in Monterey. Er erinnerte sich an seinen ersten Geburtstag, an einen Kuchen mit Kerzen, an klebrigen Zuckerguss im Mund. Gesichter umgaben ihn,
freundlich blickende Augen. Stimmen lachten, forderten ihn auf, die Kerzen auszupusten und die vielen Geschenke
auszupacken. Ein Verwandter reichte ihm ein kleines Bündel, das leise miaute. Harry zeigte darauf und sagte: »Mausi.«
Dieses Wort hatte er gerade erst gehört, als seine Mutter ihm vorgelesen hatte, und so hieß die Katze von diesem
Augenblick an: »Mausi«.
An jedem Geburtstag brachten die Erwachsenen einen
Trinkspruch aus, der auf die Besonderheit des Kindes hinwies.
An seinem fünften Geburtstag fragte Harry seine Mutter nach dem Grund dafür.
Sie streckte die Hand aus, berührte ihn sanft an der Wange und strich ihm das Haar aus der Stirn. »Wir haben so lange auf dich gewartet«, sagte sie und sah ihn aus glänzenden Augen an. »Wir hatten schon die Hoffnung aufgegeben. Als du dann doch kamst, war es wie ein Wunder.«
»Woher bin ich gekommen?«, fragte Harry und nahm
verwundert zur Kenntnis, dass die Anwesenden mit leisem Lachen auf seine Worte reagierten.
»Von hier«, antwortete seine Mutter ohne Verlegenheit und klopfte sich auf den Bauch. »Ich habe dich in mir getragen und dich neun Monate lang beschützt.«
»Ich erinnere mich daran«, erwiderte der Junge und hörte überrascht, dass die Erwachsenen erneut lachten, etwas lauter als vorher.
Doch seine Mutter schien ihn ernst zu nehmen. »Woran
erinnerst du dich?«, fragte sie ruhig.
»An Wärme und Dunkelheit… An ein angenehmes
Schweben. Das Herauskommen war schwer.«
Vater und Mutter wechselten einen erstaunten Blick,
widersprachen dem Knaben aber nicht. Wenn Harry meinte, dass er sich an seine Zeit in der Gebärmutter erinnerte, so akzeptierten sie das.
Sie akzeptierten immer alles. Harry entsann sich so deutlich an seine Kindheit wie an die Ereignisse der letzten Stunde und er konnte sich nicht daran erinnern, jemals kritisiert oder ermahnt worden zu sein. Seine Kindheit war wie eine
Gebärmutter anderer Art, schützte ihn vor Kummer und Sorge, vor Hindernissen und Missgeschicken. Man liebte und
verwöhnte ihn. Immer und überall fand er Hilfe, Unterstützung und Anerkennung. Eine solche Erziehung hätte andere Kinder zu egoistischen und hemmungslosen Monstren werden lassen, aber Harry Kim wuchs zu einem Jungen heran, der für sein sanftes, geduldiges Wesen bekannt war.
Stundenlang saß er bei seinem Vater und sah dabei zu, wie John Kim mit einem kleinen Pinsel ebenso komplexe wie zarte Muster auf Porzellan malte: bunte Blumen mit Ranken, die sich hin und her wanden. Es war eine der alten Künste, die Harrys Vater praktizierte. Überall im Haus befanden sich wundervolle Artefakte: prächtige Jadeskulpturen, glänzende Bronzefiguren, exquisit bemaltes Porzellan. Jedes Stück wurde langsam bearbeitet, mit unendlicher Geduld und bewusster Würdigung des Umstands, dass ein Kunstwerk entstand –
dabei durfte man nichts übereilen. Stunde um Stunde saß Harry da und sah zu. Offenbar hatte er die Geduld seines Vaters geerbt.
Als er drei war, begann seine Mutter damit, den Fingersatz beim P’i P’a zu erklären. Verblüfft stellte sie fest, dass er bereits darüber Bescheid wusste. Er hatte ihr beim Spiel zugesehen und die Finger beobachtet, als sie über die Saiten glitten – er merkte sich die richtigen Positionen, ohne es bewusst zu wollen. Harry spielte das Instrument so mühelos, wie er atmete, und seine erstaunte Mutter stellte sich ihren Sohn sofort als Konzertmusiker vor, auf das alte Instrument spezialisiert, das sich im vierundzwanzigsten Jahrhundert neuer Beliebtheit erfreute.
Aber wie sich später herausstellte, galt Kims Interesse keinem Saiteninstrument,
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