Schicksalspfade
Serpentinenweg. Gelegentlich verharrte er kurz und sah nach unten, um festzustellen, ob sein Vater das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Aber er lag auch weiterhin auf dem Felsen, rührte sich nicht.
Es schien eine Ewigkeit zu dauern, ihn zu erreichen, und das Herz schlug Harry bis zum Hals empor, als er sich schließlich seinem reglosen Vater näherte. Einmal mehr blickte er sich um, spähte an den Bäumen vorbei und wünschte sich, dass jemand kam, ein Erwachsener, der wusste, was es in einer solchen Situation zu unternehmen galt.
Voller Sorge trat er zu dem Felsen und versuchte, sich an die Erste-Hilfe-Maßnahmen zu erinnern, die er in der Schule gelernt hatte. Auf keinen Fall durfte man den Verletzten bewegen, denn dadurch konnte man eine Rückgratverletzung verschlimmern.
Worauf kam es an? Man stelle fest, ob er atmet oder ob sich ein Puls fühlen lässt. Harry sah, wie sich die Brust seines Vaters hob und senkte, aber er tastete trotzdem nach der Halsschlagader, nur um der Prozedur zu folgen, die man ihn gelehrt hatte.
Sein Vater atmete also, gut. Aber die Augen blieben
geschlossen und er bewegte sich nicht. Bestimmt war der Kopf mit dem Felsen kollidiert, auf dem er lag. Vielleicht hatte er eine Gehirnerschütterung erlitten.
Was nun? Harry spürte, wie Panik in ihm emporquoll, als er über seine Möglichkeiten nachdachte. Er konnte loslaufen, in die Richtung zurückkehren, aus der sie gekommen waren, in der Hoffnung, jemanden zu finden, der konkrete Hilfe zu leisten vermochte. Aber das würde Stunden dauern, selbst wenn es ihm gelang, die ganze am Morgen zurückgelegte Strecke im Laufschritt zurückzulegen, was er bezweifelte.
Außerdem bedeutete es, seinen Vater allein zurückzulassen, was er nicht für eine gute Idee hielt. Vielleicht befanden sich gefährliche Tiere in der Nähe, Bären oder Pumas. John Kim wäre ihnen hilflos ausgeliefert gewesen.
Ihm fiel ein, dass er seinen Vater kaum vor dem Angriff eines Bären oder Pumas schützen konnte, aber er verdrängte diesen Gedanken rasch.
In der Nähe plätscherten die Wellen des Sees ans Ufer.
Wasser, das war immerhin etwas. Harry nahm das Tuch ab, das er sich um den Kopf gewickelt hatte, eilte zum See und tauchte es ins Wasser. Dann lief er zu seinem Vater und betupfte ihm die Stirn. Auf diese Weise sollte sich eigentlich etwas bewerkstelligen lassen.
Doch John Kim reagierte nicht. Er lag noch immer reglos auf dem Felsen, die Augen geschlossen, der Mund ein wenig geöffnet. Speichel rann über die eine Wange.
Harry setzte sich, kämpfte gegen die Furcht an und versuchte, ruhig zu bleiben. Ihm blieb keine Wahl – er musste Hilfe holen. Er erinnerte sich an das Zeichenmaterial seines Vaters und fand es neben dem Felsen auf dem Boden verstreut. Mit der Holzkohle schrieb er eine Mitteilung auf den Skizzenblock, teilte John mit, dass er fortgegangen war, um Hilfe zu holen.
Gleichzeitig bat er ihn, an diesem Ort zu bleiben.
Er legte den Block dorthin, wo sein Vater ihn sehen musste, wenn er die Augen öffnete, berührte dann noch einmal seine Stirn. Sie war klamm und Harry fühlte eisige Furcht in sich aufsteigen. Erneut blickte er zum Wald und hielt nach magischen Rettern Ausschau, die mit dieser schrecklichen Situationen fertig werden konnten.
Und dort waren sie.
Vier junge Männer und Frauen, nur wenige Jahre älter als er, gekleidet in graue Overalls, die wie Uniformen wirkten und metallene Abzeichen auf der linken Brustseite aufwiesen.
Ihr Anblick überraschte Harry, beunruhigte ihn aber nicht.
Sie machten einen freundlichen, zielstrebigen Eindruck, kamen so schnell näher, als spürten sie den Ernst der Situation.
»Was ist passiert?«, fragte einer der jungen Männer und eilte zum bewusstlosen John Kim.
»Er ist gestürzt«, antwortete Harry und deutete nach oben.
Das Erscheinen dieser Samariter erleichterte ihn zutiefst. Sie waren älter als er, verfügten über mehr Erfahrung. Ihre Bewegungen brachten Selbstsicherheit zum Ausdruck.
Bestimmt wussten sie, was es zu tun galt.
Eine der jungen Frauen hielt ein Gerät über Harrys Vater. »Er hat eine Gehirnerschütterung«, sagte sie. »Er braucht unverzüglich medizinische Hilfe.«
Der erste junge Mann klopfte kurz auf das Abzeichen an seiner Brust. »Noftsger an Basislager. Wir haben hier einen Notfall.«
»Sprechen Sie, Kadett«, erklang eine Stimme.
»Wir sind Zivilisten begegnet, die einen Unfall hatten. Ein gut vierzig Jahre alter Mann erlitt dabei eine
Gehirnerschütterung.
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