Schicksalsstürme: Historischer Roman (German Edition)
genau so, wie er ist. Aber er ist jemand, der Leute, die er nicht mag, mit Worten zur Weißglut treiben kann. Er legt es regelrecht darauf an, dass sie ihn zum Duell fordern. Und dann macht er kurzen Prozess.«
»Er tötet sie?«, rief Brida erschrocken aus.
»Nein, natürlich nicht.« Barbara lachte. »Er macht sich einen Spaß daraus, den Angreifer schnell zu entwaffnen, im schlimmsten Fall fügt er ihm eine kleine Verletzung am Arm zu. Und das war’s dann. Aber der Unterlegene ist zutiefst gedemütigt. Vor allem wenn der vorher groß getönt hat, es Simon endlich mal zu zeigen.«
»Und warum tut er das?«
»Weil es ihm Spaß macht. Er ist dafür berüchtigt. Das war ja auch der Grund dafür, weshalb er vom Rat der Hanse ausgewählt wurde, den Überläufer zu spielen und die Dänen auszukundschaften. Er hatte den entsprechenden Ruf. Jeder hat es ihm geglaubt.«
Brida gewann zunehmend den Eindruck, Barbara spreche von einem Fremden. Auf einmal kam es ihr so vor, als seien Erik und Simon zwei grundverschiedene Menschen. Sie erinnerte sich an die Vermutung ihres Vaters: Vielleicht war der Weg, den Erik eingeschlagen hatte, nicht der richtige. Vielleicht hatte Gott ihm die Erinnerung genommen, damit er sich selbst wiederfinden konnte.
»Ihr seid so nachdenklich, Brida. Habe ich Euch verschreckt?«
»Nein, Barbara. Ich habe gerade nur darüber nachgedacht, was ein Mensch ohne seine Erinnerung ist.«
»Und was ist er?«
»Auf sich selbst zurückgeworfen. Auf den Kern seines Wesens. Und da war er ganz anders, als Ihr ihn beschreibt.«
Barbara senkte die Lider. »Das mag sein«, sagte sie leise. »Jannick hat einmal gesagt, er habe unseren Bruder nicht wiedererkannt, als er ihn damals in Travemünde abholte.«
»Damals?«
»Nach dem Tod unserer Mutter.« Barbaras Stimme war leise geworden. »Simon war mit ihr in Vordingborg gewesen. Auf der Rückreise nach Lübeck wurde ihr Schiff von dänischen Kaperfahrern versenkt. Simon war der einzige Überlebende.« Barbara hielt eine Weile inne. »Er muss stundenlang im Meer ausgeharrt haben, bis ihn Fischer fanden und nach Travemünde brachten. Er erklärte nur, unsere Mutter sei tot. Kein weiteres Wort. Ich war damals sieben, ich habe ihn immer wieder gefragt, wie sie gestorben ist, aber er hat nichts weiter gesagt. Nie mehr. Auch nicht Jannick oder Vater gegenüber. Auch nichts zu unseren älteren Schwestern Margret und Agnes, die mit ihren Ehemännern in Rostock und Hamburg leben und nur zu Mutters Trauerfeier kamen.«
»Er hat nie darüber gesprochen?«, wiederholte Brida. Und zugleich begriff sie, dass er auch ihr niemals etwas verraten hätte, hätte er sein Gedächtnis nicht verloren. Die Frau, die ihn in die Tiefe zog. Seine Mutter. Er hatte sie stundenlang gehalten. Irgendwann hatte ihn die Kraft verlassen, und um nicht selbst zu ertrinken, hatte er sie losgelassen. Niemand hätte ihm dafür einen Vorwurf gemacht. Seine Mutter vermutlich am allerwenigsten. Aber seine Schuldgefühle waren so groß gewesen, dass er es für immer verschwieg. Und doch war diese Erinnerung die mächtigste überhaupt. Selbst der Verlust seines Gedächtnisses konnte das alte Bild nicht bannen. So sehr drängte es an die Oberfläche. Vermischte sich mit frischen Bildern.
»Was meinte Jannick damit, dass Simon sich verändert hatte?«
»Er war irgendwie anders. Ich weiß es auch nicht so genau, ich war damals noch zu jung. Nur an eines erinnere ich mich, denn das fiel mir sofort auf. Unser Vater neigt dazu, dass ihm die Hände zittern, wenn er innerlich aufgewühlt ist. Seit dem Tod unserer Mutter zeigt auch Simon dieses Leiden.«
Brida erinnerte sich an seinen Anblick, kurz nachdem man ihn aus dem Kerker entlassen hatte. Wie er hastig seine Hände hinter dem Rücken verschränkt hatte, um das Zittern zu verbergen. An jenem Tag hatte sie sich zum ersten Mal gefragt, wie er wohl sein mochte, wenn er wieder wüsste, wer er war.
Sie atmete tief durch. Alles in ihr sehnte sich danach, endlich mit ihm allein zu sprechen, von ihm selbst zu erfahren, was in ihm vorging. Ihm dabei zu helfen, jene Dinge zu überwinden, die ihn noch immer quälten.
»Wie ging es dann weiter?«, fragte sie Barbara. »Nachdem Eure Mutter tot war?«
»Im Jahr darauf verließ Simon unser Haus, um der Fechtschule Johann Liechtenauers in Franken beizutreten. Unser Vater unterstützte sein Vorhaben. Simon blieb fünf Jahre fort, in der Zeit hat er all das gelernt, was die Burschen hier inzwischen fürchten.«
Weitere Kostenlose Bücher