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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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nur
klassische Musik und Schlager aus den dreißiger Jahren, um sich nicht zu viele
Beschwerden über »Negermusik« einzuhandeln. Der Kollege muss ein Grammophon im
Raum haben. Erleichtert vielleicht die Verhöre. Stave hatte gehofft, dass es im
Innern kühler sein möge, doch er täuscht sich: Heiße, muffige Luft steht in den
Räumen.
    Er weist sich beim diensthabenden Schupo aus und erklärt, warum er
hergekommen ist. MacDonald stellt er nicht vor. Der Beamte blickt kurz auf die
Uniform des Lieutenants und hat keine Fragen.
    »Kommen Sie bitte mit, Herr Oberinspektor.«
    Er führt sie in ein angrenzendes Büro. Ein Verhörzimmer, unbenutzt,
ein Tisch, drei Stühle, eine Lampe, deren Schirm zur Decke gedreht ist. Stave
muss an MacDonalds Bemerkung von der Gestapo denken, verscheucht diese
Überlegungen. Gibt jetzt Wichtigeres.
    Ein paar Minuten später hält er eine Kopie der Vermisstenmeldung in
der Hand: Adolf Winkelmann, geboren 2. April 1933. Der Oberinspektor überfliegt
die Daten. Der Vater Sachbearbeiter im Einwohnermeldeamt, Mutter Hausfrau,
keine Geschwister. Die Eltern lebten in Horn – das Viertel der kleinen Beamten,
erinnert sich Stave, komplett zerbombt. Vater und Mutter sind tot, seit 1943.
Vermisstenmeldung erstattet von der einzigen lebenden Verwandten des Jungen,
bei der er auch gemeldet ist, seiner Tante Greta Boesel, wohnhaft in Barmbek,
verwitwet.
    Stave zeigt MacDonald das Blatt, deutet auf die schief getippten
Daten. »Jahrgang 1933«, sagt er, »Vorname Adolf. Da weiß man, was die Eltern
gewählt haben.«
    »Ist ihnen nicht gut bekommen«, antwortet der Lieutenant und
ignoriert den empörten Blick, den ihm der Schupo zuwirft.
    »Aber der Junge überlebt alle Bomben und auch den Hungerwinter.«
    »Ein Glückskind, das irgendwann kein Glück mehr hatte.«
    Stave blättert in den Unterlagen. »Seine Tante hat ihn vermisst
gemeldet, nachdem er eine Woche lang nicht zu Hause war. Scheint so, als sei
der Junge öfters nicht bei ihr aufgekreuzt und als hätte sie sich erst Sorgen
gemacht, nachdem sie mehrere Tage lang nichts von ihm gehört hatte.«
    »Gibt es ein Foto?«
    »Nein, nicht einmal ein Passbild. Die Tante hat zu Protokoll gegeben,
dass sie kein Foto des Jungen besitzt.«
    MacDonald nickt nur, schweigt.
    »Adolf Winkelmann ging zur Volksschule Hinschenfelde. Dort scheint
man ihn aber auch nicht vermisst zu haben. Hat wahrscheinlich öfter mal
geschwänzt.«
    »Glauben Sie, dass es der Junge von der Werft ist? Was hätte ein
Junge, der in Barmbek wohnt, am Hafen verloren? Das liegt nicht gerade in der
Nachbarschaft.«
    »Sieht so aus, als sei er nicht allzu häufig in Barmbek gewesen«,
erwidert Stave und klopft auf das Papier. »Das Alter, die Kleidung – das passt.
Besuchen wir die Tante.«
    Stave nimmt die Kopie der Vermisstenmeldung mit. Greta
Boesel, Fuhlsbüttler Straße 594. »Das ist im Norden«, informiert er den Briten,
»irgendwo beim Ohlsdorfer Friedhof. Vier, fünf Kilometer.«
    »Gut, dass Sie mich und meinen Jeep haben«, lacht der und gibt Gas.
    Über den Barmbeker Markt, in Schlangenlinien um Trümmerhaufen auf
erst halb geräumten Straßen, dann auf die Fuhlsbüttler Straße, fast
schnurgerade nach Norden. Links und rechts die niedergebrannten oder von
Holzsammlern zerhackten Stümpfe alter Eichen, ab und zu ein Baum, der alle
Angriffe überstanden hat und dessen Laubkrone nun Schatteninseln formt, unter
denen sich Flaneure ausruhen. Männer in Leinenanzügen und zerbeulten Hüten,
Aktentaschen unter dem Arm, unbeirrbare kleine Angestellte in einem Meer der
Verwüstung; andere in schweißfleckigem Unterhemd, derb und breit und
bierbetäubt. Frauen in luftigen, geblümten Kleidern und Kopftüchern. Keine
Nylonstrümpfe, die Farben der Kleider verblasst, aber immerhin – MacDonald
sieht manchen Fräuleins so lange nach, dass Stave fürchtet, sie würden gegen
eine Eiche krachen.
    Sie passieren das Krankenhaus Barmbek, eine Ansammlung braunroter
Gebäude in einem weitläufigen Park. Die Engländer haben es requiriert. »Hospital
94« steht an der ummauerten Zufahrt, Militärpolizisten dösen in der Sonne.
Staves Sohn ist hier geboren worden. Plötzlich sieht er Karl wieder als Baby,
so unglaublich winzig in seinen Armen und so leicht. Margarethe, blass,
verschwitzt, erschöpft, aber unfassbar glücklich. Er blickt nach links, weg vom
Krankenhaus, weg von MacDonald.
    Ruinen zu beiden Seiten, dazwischen Villen, blassgelb, blau, weiß
verputzt, manche fast obszön gut

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