Schieber
Aber bis
heute Abend wäre das Zeug in der Hitze verdorben, und vorher wird er seine
Wohnung nicht mehr sehen. Es wird Zeit, wieder an die Arbeit zu denken.
Staatsanwalt Dr. Albert Ehrlich ist sieben Tage in der
Woche in seinem Büro – wenn er nicht vor Gericht Angeklagten zusetzt. Ein
brillanter Jurist, doch weil er Jude ist, warfen ihn die braunen Machthaber
1933 aus dem Staatsdienst. Nach der »Reichskristallnacht« war er für kurze Zeit
im KZ, ergatterte gerade noch rechtzeitig ein Visum für England. Seine Frau
aber, die nicht jüdisch war, musste zurückbleiben – und nahm sich 1941 aus
Scham und Verzweiflung das Leben. Mit den britischen Besatzungssoldaten ist
Ehrlich in seine Heimat zurückgekehrt, wo er nun vor allem Nazis jagt.
Der Oberinspektor wirft sich ein altes Leinenjackett, das ihm noch
Margarethe im letzten Sommer vor dem Krieg geschenkt hat, über den Arm, drückt
sich den dazu passenden Hut tief in die Stirn und tritt in die gleißende Sonne.
Seine Dienstpistole hat er am Garderobenhaken hängen lassen, obwohl er heute
noch einiges vorhat. Aber die wird er nicht benötigen, hofft er.
Er braucht eine Stunde, bis er den wuchtigen Bau der
Staatsanwaltschaft erreicht hat. Er ist durstig und verschwitzt. Ein
verschlafener Pförtner, der in einer alten Ausgabe der »Welt« blättert, lässt
ihn mit gleichgültiger Miene ein. Auf den Gängen ist es still, nur aus einem
Büro schallt das Hämmern einer Schreibmaschine. Stave lächelt und drückt die
Tür auf.
»Wollen Sie Ihre Sekretärin arbeitslos machen, Doktor Ehrlich? Haben
Sie Mitleid mit ihr, es sind nicht viele Stellen frei.«
Ehrlich – Ende vierzig, klein, große Augen hinter einer dunklen
Hornbrille, Schweißperlen auf der Glatze – hält inne und blickt überrascht von
der schweren Olympia-Schreibmaschine auf.
»Ich habe Sie nicht kommen hören.«
»Ich hätte auch in einem Sherman vorfahren können, und Sie hätten
mich nicht gehört. Das Ding da ist lauter als ein Maschinengewehr.«
»Es ist leiser, glauben Sie mir. Ich war Freiwilliger im Ersten
Weltkrieg. MG-Schütze an der Westfront.« Er rückt seine Brille zurecht. »Meine
Augen habe ich mir erst später ruiniert, beim Studium. Zu viele Gesetzestexte.«
»Das sagt ausgerechnet ein Staatsanwalt.«
Ehrlich lächelt und bietet ihm ein Glas Wasser und einen Platz an.
Stave setzt sich auf einen unbequemen Besucherstuhl und starrt über den Rand
des Wasserglases auf zwei Skelette, die Arm in Arm durch eine Landschaft
tanzen. Verblüfft deutet er auf das gerahmte Bild, das hinter dem Staatsanwalt
an der Wand hängt.
»Das ist neu.«
»Sie haben es noch nicht gesehen. Aber neu ist es nicht, sondern
dreiundzwanzig Jahre alt. Ernst Barlach, eine Lithografie aus einer Serie. ›Der
Totentanz‹. Expressionismus. Es entstammt meiner alten Privatsammlung«, klärt
ihn Ehrlich in sanftem Ton auf. »Ich konnte es bei einem ehemaligen leitenden
Gestapobeamten beschlagnahmen. Er hat es sich damals günstig organisiert und
dann in einem Verhörzimmer aufgehängt. Sollte ein makaberer Scherz sein, nehme
ich an. Entartete Kunst bei einem Gestapomann, die Ästhetik geht seltsame
Wege.«
»Und der Rest Ihrer Sammlung?«
»Ist verschollen. Noch. Aber ich arbeite auch daran.« Dann macht er
eine Handbewegung, als sei ihm das alles nicht so wichtig. »Geht es um den toten
Jungen? Die Obduktion habe ich angeordnet. Es scheint, als landen die besonders
hässlichen Fälle immer bei Ihnen.«
»Einer muss es ja machen.«
»Sie sind nicht allein.« Der Staatsanwalt lehnt sich zurück. »Ich
bin ganz Ohr.«
»Sie haben meinen ersten Bericht bekommen. Viel Neues gibt es
nicht.« Der Oberinspektor fasst noch einmal zusammen, was er über den Fall
weiß, erzählt ausführlich von seinem Besuch bei Greta Boesel und ihrem
Verlobten.
»Ich glaube nicht, dass gegen Frau Boesel schon einmal in irgendeiner
Sache Anklage erhoben worden ist«, wirft der Staatsanwalt ein. »Und gegen den
Kümmel auch nicht. Obwohl sein Gewerbe, wie soll ich mich ausdrücken, etwas
anrüchig zu sein scheint. Verdächtigen Sie einen der beiden?«
Stave hebt die Hände. »Im Moment sind sie nichts weiter als
Angehörige, die ich benachrichtigt habe. Keine Zeugen, erst recht keine
Tatverdächtigen. Es bleibt bloß der Gedanke, dass Greta Boesels
Transportgeschäfte sie ab und zu bis in den Hafen führen könnten. Und dass der
Junge im Hafen ermordet worden ist.«
»Allerdings auf einer Werft. Während eine
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