Schieber
wütend.
Das Fiepen einer Ratte. Ein grölender Betrunkener. Stave lauscht dem Lallen.
Soll wohl das »Horst-Wessel-Lied« sein. Ob das alles aus offenen Fenstern bis
zu ihm hochweht? Oder ob sich die Menschen nicht mehr an die Ausgangssperre der
Engländer halten, das Verbot, nach Mitternacht noch auf den Straßen zu sein?
Behutsam streichelt er Annas Schulter. Was wird sein, wenn sein Sohn
aus dem Gefangenenlager zurückkehrt? Wenn vielleicht doch irgendwann ein
Veckinhausen aus dem Osten aufkreuzt? Wenn überhaupt alles wieder normal wird?
Wenn sie wieder in sauberen Wohnungen leben? Wenn sie wieder Fliederbeersuppe
essen? Ist dieses erbärmliche Leben vielleicht Staves größtes Glück? Der eine
Moment des Chaos, in dem möglich wird, was sonst nicht möglich wäre? Und der
irgendwann verwehen wird?
Freu dich doch einfach, dass du noch lebst, sagt er sich. Dass Anna
neben dir liegt. Dass Karl den Krieg überstanden hat. Freu dich einfach.
Stave starrt weiter aus dem Fenster. Er weiß, dass er nachts oft
Albträume hat, in denen ihm Margarethe erscheint, im Flammenmeer einen
grässlichen Tod sterbend. Er wird dann wach, schweißgebadet, manchmal
schreiend. Damit will er Anna nicht erschrecken, er hat ihr nie davon erzählt.
Und so zwingt sich Stave, auf die Geräusche der Nacht zu lauschen und mit
offenen Augen liegenzubleiben, bis die Ruinen vom ersten grauen Dämmerlicht
umspielt werden.
Heim und Werk
Samstag, 31. Mai 1947
Ein gemeinsames Frühstück auf dem Balkon. Wundervolle
Normalität, auch mit bitter schmeckendem Ersatzkaffee und wässrigem Quark auf
dem Brot.
»Du siehst müde aus«, sagt Anna nachdenklich.
»Mein Gesicht sieht morgens immer aus wie ein zerknautschter
Mantel«, antwortet er leichthin. »Das wird sich erst ändern, wenn es wieder
Bohnenkaffee gibt.«
»Ich habe gehört, dass sie die Lebensmittelrationen erhöhen werden.«
»Gerüchte.«
»Der Krieg ist seit zwei Jahren vorüber. Ich habe eine Wohnung
gefunden. Von der Baracke zum Keller. Noch zwei weitere Jahre und ich steigere
mich zum Schrebergartenhäuschen.«
»Vielleicht bekommst du dein Gut zurück«, entfährt es dem
Oberinspektor, obwohl er sich direkt danach auf die Zunge beißen möchte.
Verdammte Neugier.
Anna blickt lange über die Stadt. Das Morgenlicht umspielt ihre
Züge. Wie schön sie ist, denkt Stave. Wenn sie mich doch nur wieder ansehen
würde.
Schließlich erfüllt sie ihm den heimlichen Wunsch, doch sie lächelt
nicht mehr. »Die Russen sind jetzt da, und die werden nicht mehr gehen. Sie
werden eine wie mich nie zurückkehren lassen. Und selbst wenn: Da ist nichts
mehr.«
Stave fällt eine Zentnerlast vom Herzen, auch wenn er sich selbst
dafür verflucht, über den Verlust seiner Geliebten erleichtert zu sein.
Bedeutet das nicht auch: niemand mehr?
»Eine Heimat an der Elbe ist gar nicht so schlecht.«
»Heimat hat für mich so einen verlorenen Klang. Wie Bohnenkaffee.«
Nun lächelt sie. »Ich möchte gar nicht mehr zurück«, fährt sie fort. »Der
Zufall hat mich nach Hamburg verschlagen. Monatelang war ich nur damit
beschäftigt, zu überleben. Aber nun plane ich zum ersten Mal wieder die
Zukunft.«
»Komme ich in deinen Plänen vor?«
Sie küsst ihn. »Du bist der Grund dafür, dass ich wieder Pläne
schmiede. Wir brauchen Zeit, um«, Anna sucht nach dem richtigen Wort, »um uns
füreinander zu öffnen. Und Zeit ist glücklicherweise das, was uns niemand
wegbomben kann.«
Es ist fast Mittag, als sie endlich vor der Hitze vom
Balkon flüchten.
»Musst du arbeiten?«, fragt Stave.
»Mach dir keine Sorgen. Am Wochenende werde ich nicht zur Trümmerfrau.
Viel zu viele Spaziergänger. Irgendjemand würde die Polizei rufen. Frühmorgens
ist besser. Noch besser abends, kurz vor der Ausgangssperre. Ich gehe zum
Hansaplatz, um mir auf dem Schwarzmarkt Holzleim zu besorgen. Ich will einen
Bilderrahmen reparieren. Später habe ich eine Verabredung mit einem Herrn der
britischen Verwaltung, der seiner Gattin eine alte Brosche schenken möchte.«
»Und wir haben auch eine Verabredung.«
»Heute Abend, vor den Kammerspielen.« Sie küsst ihn, bevor sie die
Wohnungstür öffnet.
Er blickt ihr nach. Ein Winken, eine Kusshand, kein Wort mehr im
Treppenhaus – es könnte ein Nachbar da sein und den lieben langen Samstag an
der Tür stehen und lauschen. Wie früher.
Stave steht in der Küche und löffelt Quarkreste aus dem Glas, eine
milchige, geschmacklose Suppe, eigentlich hat er keinen Appetit mehr.
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