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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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billigen Papier. Beinahe hätte der Oberinspektor darüber die Zeit
vergessen. Als er merkt, dass das Sonnenlicht nicht länger grellgelb, sondern
rotgolden in sein Büro flutet, springt er auf. Anna!
    Er nimmt die Straßenbahn, geht dann den langen Rest des Weges zu
Fuß. Sie hat nicht abgesagt. Er wird ihr von seinen Sorgen erzählen. Von seinem
Sohn, der irgendwann kommen wird. Keine Geheimnisse, keine blinden Flecken mehr
im Leben. Er wird ihr ausmalen, wie sie es schaffen werden, gemeinsam. Sie
werden auf dem Balkon essen, im Sonnenuntergang leuchten auch Trümmer
romantisch. Und dann die Nacht.
    Im Treppenhaus ist es schon düster wie in einem Grab, weil die
kleinen Stiegenfenster seit Jahren nicht mehr geputzt worden sind und das Glas
schmierig schimmert unter Lagen von Staub und Taubendreck. Stave nimmt die vier
Etagen trotzdem im Laufschritt, beschwingt nun. Plötzlich hält er inne. Ein
Schatten am letzten Treppenabsatz, direkt vor seiner Wohnungstür. Er hält den
Atem an. Rasender Herzschlag. Er fummelt mit der Rechten im Holster unter dem
Jackett nach seiner FN 22.
    Eine Stimme von oben: »Willst du deinen eigenen Sohn abknallen?«
    Stave klammert sich an das Treppengeländer. Nimm dich
zusammen, sagt er sich. Diese Stimme hast du so viele Jahre nicht gehört, du
kannst jetzt nicht schlappmachen. Mit zitternden Händen reißt er ein
Streichholz an, leuchtet mit der kleinen Flamme nach oben.
    »Karl …«
    »Du hast ein paar graue Haare bekommen.«
    Stave steigt mit unsicheren Schritten die letzten Stufen nach oben.
Er würde seinen Sohn gerne umarmen, doch er wagt nicht, ihn zu berühren.
Ungeschickt fummelt er den Schlüssel in die Wohnungstür, drückt sie auf, blickt
seinen Sohn dabei kaum an.
    »Komm rein«, flüstert er. »Bist du schon lange hier? Wie hast du
mich gefunden?«
    Sonnenlicht scheint noch in die Wohnung. Nun erkennt Stave die
harten Linien im Gesicht seines Sohnes, die graue Haut, die Ringe unter den
Augen. Karl ist einen Kopf größer als er. Er war schon immer dünn, jetzt ist er
ausgemergelt, die Haut seiner Wangen spannt sich über die Jochbeine. Ein
schmutzigblau eingefärbter Wehrmachtsmantel schlottert um seinen Leib, darunter
trägt er eine Hose undefinierbarer Farbe, ein zerrissenes Hemd, löchrige
Stoffschuhe – nicht das Paar, das Stave auf dem Schwarzmarkt erstanden und ihm
nach Workuta geschickt hat. Lumpen. Karl hat die gleichen hellblonden Haare wie
er, aber die tief dunkelblauen Augen hat er von Margarethe. Der Blick aber ist
nicht mehr der eines Jungen, nicht mal der des fanatischen Rotzlöffels aus der
Hitlerjugend – bloß noch müde, misstrauisch, hart. Neunzehn Jahre alt, denkt
Stave, und der Krieg hat einen verhärmten Mann aus ihm gemacht. Stave blinzelt
und zwingt die Tränen nieder. Seit er ein Kind war, hat er nicht mehr geweint.
Ich darf jetzt nicht losheulen, ermahnt er sich. Wer weiß, was Karl denken
würde.
    »Immer im Dienst, Vater? Auch samstags, wie früher.«
    »Hast du lange gewartet?« Staves Stimme klingt belegt.
    »Wenn ich eins bei der Truppe gelernt habe, dann Warten.« Karl
blickt sich in der Stube um. »Nichts aus unserer alten Wohnung hier?«
    »Alles zerstört.«
    Stave schließt die Augen. Hoffentlich fängt das nicht gleich wieder
an, fleht er im Stillen. Vorwürfe. Wo warst du, als die Bomben auf unser Haus
fielen? Warum warst du nicht bei Mutter? Karl selbst war in jener Nacht 1943 in
einem Zeltlager der HJ, was ihm das Leben gerettet hat. Wahrscheinlich macht er
sich auch selbst Vorwürfe, sagt sich Stave.
    Zu seiner großen Erleichterung geht sein Sohn nicht weiter auf das
Thema ein, zieht einen Stuhl heran, lässt sich schwer darauffallen. Er riecht
nach schmutziger Kleidung, Schweiß, Desinfektionsmitteln. Keine Tasche dabei,
kein Koffer, wie Stave bestürzt feststellt.
    »Endlich keine Kaserne mehr, kein Lager, keine Baracke.« Sein Sohn
fährt sich mit der Hand über die Augen. »Wochenlang bin ich im Viehwaggon durch
Russland gefahren. Ich habe gedacht, ich komme nie an. Irgendwann bin ich doch
im Lager 96 angekommen.«
    »Lager 96?«
    »Entlassungslager, wo sie die Kriegsgefangenen freilassen, die es
bis dahin geschafft haben. In Gronenfelde, bei Frankfurt an der Oder. Weil ich
aus Hamburg komme, haben sie mich dort in einen Zug gesetzt. In der
Entlassungsstelle bei der Kunsthalle habe ich mir heute morgen meinen
D-2-Schein abgeholt. Ich habe mich durchgefragt. Gott, bin ich müde. Und
hungrig.«
    Stave springt auf. »Ich

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