Schieber
es ist, desto erträglicher ist der Schmerz in seinem
linken Fuß.
Unterwegs denkt er über die Kohlenklauer nach. Rache für den Tod
eines Freundes ist ein gutes Motiv. Er hat auf einen Schlag zwei, drei Dutzend
potenzielle Verdächtige. Allen voran Jim Meinke, der kräftig ist und ein
Wehrmachtsmesser hat und der Boss der Bande ist – also derjenige, von dem die
anderen Bengel erwarten, dass er die Sache in die Hand nimmt. Der auch am Hafen
herumstromert. Der, selbst wenn er dies leugnet, schließlich sogar bei Blohm
& Voss gewesen sein könnte, sich zumindest dort auskennt. Eine plausible
Geschichte, die vielleicht sogar Staatsanwalt Ehrlich so weit überzeugen könnte,
dass er Anklage erhebt. Gäbe es da nicht einen Schönheitsfehler: Meinke hat,
als der Oberinspektor ihn ansprach, blitzschnell sein Messer gezogen – mit der
rechten Hand. Nach Doktor Czrisini aber muss der Mörder Adolf Winkelmanns
seinen Stoß mit der Linken geführt haben.
Stave fragt sich, ob ein Bengel wie Meinke beidhändig sein kann. Er
versucht sich zu erinnern, wie der Junge auf den Kohlewagen geklettert ist.
Kräftig, geschickt – aber als er oben war, hat er seine Beute mit der Rechten
in den Sack geschaufelt, mit der Linken hat er diesen offen gehalten. Typisch
Rechtshänder. Wäre auch zu einfach gewesen, denkt der Kripobeamte. Außerdem
traut er ihm einen derart kaltblütigen Mord nicht zu.
In seinem Büro steht die Luft, es weht ihm der Geruch nach altem
Papier entgegen: Akten, Akten, Akten. Er wird noch ein paar neue produzieren,
einen Bericht über Meinkes Vernehmung schreiben und in den schmalen, grünen
Pappordner heften. Er liebt es, solche Arbeiten am Samstag zu erledigen, weil
ihn dort selten jemand stört. Erna Berg hat frei, die meisten Nachbarbüros
stehen offen, nur vom Ende des Flures schallt das Klacken einer Schreibmaschine
herüber – ein Kollege mit ähnlichen Vorlieben.
Als er zum Schreibtisch geht, wird ihm klar, dass die Akte »Mordfall
Adolf Winkelmann« sogar noch umfangreicher werden wird als geplant. Ein Blatt
liegt darauf, Stave erkennt MacDonalds nachlässige Handschrift:
Alter Junge,
ich kann Sie seit Stunden nicht erreichen, hoffentlich finden
Sie diese Notiz. Ich habe mich bei unseren Leuten umgehört, um ein paar Dinge
über Blohm & Voss herauszufinden. Die Kameraden von der Air Force haben 38 Luftangriffe auf die Werft geflogen, trotzdem wurde dort bis zum Kriegsende
produziert. 16.339 Mann arbeiteten noch im Februar 1945. Jetzt wird es
vielleicht interessant: Die meisten waren Zwangsarbeiter. 600 Häftlinge aus dem
KZ Neuengamme haben bei Blohm & Voss geschuftet, sie haben dort sogar eine
Außenstelle des KZ eingerichtet. Die meisten anderen waren Zwangsarbeiter aus
ganz Europa, hauptsächlich aus dem Osten. Sie sind in 26 Lagern untergebracht
gewesen, rund um die Werft und die zu Blohm & Voss gehörige Flugzeugfabrik
in Finkenwerder.
Die Unterlagen sind bedauerlicherweise höchst lückenhaft. Ich
bin alles durchgegangen und konnte keinerlei Verbindung der Familie Winkelmann
mit einem Arbeiter der Werft feststellen. Soweit ich weiß, hat auch kein
Winkelmann je bei Blohm & Voss gearbeitet. Aber: Von den KZ-Häftlingen hat
etwa die Hälfte überlebt. Von den Zwangsarbeitern gab es, wie gesagt, bei
Kriegsende sogar noch viele Tausend. Gut möglich, wenn ich dies auch nicht habe
feststellen können, dass etliche von denen noch immer in Hamburg sind:
Displaced Persons, die nicht nach Osteuropa zurückwollen. Sie wissen, dass sich
viele DPs heute als Schmuggler oder Schwarzmarkthändler durchschlagen. Die
kennen das Werftgelände besser als Sie oder ich. Und hat Adolf Winkelmann nicht
Kontakte zu Schmugglern gehabt? Und auf dem Schwarzmarkt? Ist das also eine
Spur? Er machte Geschäfte mit DPs, die früher bei Blohm & Voss schuften
mussten – und irgendwann ging etwas dabei schief und der Junge endet tot auf
einer Bombe?
Genügend Fragen, um an einem netten Samstag darüber
nachzudenken. (Denn Sie sind garantiert im Büro, wie mir Erna verriet.)
MacDonald
Stave reibt sich die Augen. Wenn er alle Kohlenklauer
Hamburgs und alle DPs aus der Region verhören muss, dann klingt das nach vielen
durchzuarbeitenden Wochenenden. Ihm widerstrebt die Theorie des Lieutenants,
aber er findet nichts, das gegen sie spräche. Zwei Spuren also.
Er formuliert seinen Bericht sorgfältig, hackt ihn mit ungeschickten
Fingern in die Schreibmaschine, kämpft mit dem ausgeleierten Farbband und dem
gelben,
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