Schieber
nicht hin. Ich bin bloß müde.«
Schweigen. Langsam kaut sein Sohn die Marmeladenbrote, sein Gesicht
zeigt einen fast andächtigen Ausdruck. Ganz langsam schlürft er den Kaffee.
Stave weiß nicht, was er noch sagen soll. Zögernd kriecht die Dunkelheit heran.
Er kramt in einer Schublade, bis er einen Kerzenstummel gefunden hat.
Flackerndes Licht.
»Wir hatten in Workuta auch eine Kerze pro Baracke«, sagt Karl
unvermittelt. »War im Winter unser einziges Licht.« Dann steht er mit schweren
Bewegungen auf. Er taumelt. »Ich muss ins Bett«, murmelt er.
Der Oberinspektor führt ihn in das Zimmer, das er hergerichtet hat.
Endlich ist Karl da! Er muss sich plötzlich an der Wand abstützen. Sein Sohn
bemerkt es zum Glück nicht, er streicht vorsichtig über das Bett. »Eine
Matratze und eine Decke. Ich bin wieder Zivilist«, sagt er. Er streift endlich
Mantel, Hemd, Hose ab. Kein Unterhemd, löchrige Unterhose, Rippen, die sich
unter der gespannten Haut wölben. Er legt sich hin – und ist fünf Sekunden
später eingeschlafen.
Stave blickt auf ihn hinunter. Im Schlaf entspannen sich die Züge
seines Sohnes. Endlich sieht er wieder aus wie ein Junge, denkt er. Aber er hat
nicht vergessen, dass Karl ein ehemaliger Soldat ist. Deshalb wagt er nicht,
ihn zu berühren, aus Angst, er könnte aus dem Schlaf schrecken, gar um sich
schlagen. Was mag er erlebt haben? Stave bleibt nur am Bett stehen, betrachtet
den schmalen Körper, das hagere Gesicht, die verunstaltete Rechte. Obwohl es
noch immer heiß ist und kein Lufthauch durch das offene Fenster weht, legt er
die Wolldecke behutsam über seinen Sohn. Leise rafft er die Lumpen vom Boden
auf. Er wird sie in den Ascheimer werfen. Er legt ein Hemd und eine Hose von
sich über einen Stuhl. Wird Karl zu klein sein, aber es muss reichen, bis sie
auf dem Schwarzmarkt etwas Neues organisieren werden.
Lange bleibt er mit der Kerze in der Hand im Türrahmen stehen. Er
will nicht aus dem Zimmer gehen. Lass ihn ungestört, sagt er sich schließlich.
Sei nicht sentimental. Karl hat so viel überlebt, du musst nicht auf ihn
aufpassen.
Stave geht in sein Zimmer, dreht vor dem Bett aber um, öffnet die
Balkontür, tritt ins Freie. Die Stadt unter ihm ist düster, rötlicher
Kerzenschein zwischen Ruinen, irgendwo ein hell erleuchtetes Fenster, wo sie
Strom verschwenden können. Die Lichtkegel eines britischen Jeeps, der röhrende
Motor. Hoffentlich weckt die Patrouille meinen Jungen nicht. Er wartet mit
angehaltenem Atem, bis das Auto die Ahrensburger Straße hinuntergefahren ist,
lauscht auf Geräusche hinter der verschlossenen Zimmertür. Nichts. Karl
schläft.
Er zieht sich einen alten Holzstuhl heran, setzt sich auf den
Balkon. Denkt an Karl, an Anna, daran, wie das Leben jetzt wohl weitergehen
wird. Schlafen wird er diese Nacht nicht mehr.
Auf eigene Faust
Montag, 9. Juni 1947
Hitze. Der Gestank nach Fäkalien quillt aus einem
Trümmergrundstück, weil zwischen den Ruinen die Leitungen bis zur Kanalisation
aufgeplatzt sind. Stave hat kein Auge für seine verwüstete Stadt, er atmet
flach, um möglichst wenig vom erstickenden Dunst aufzunehmen, geht langsam zur
Zentrale. Endlich Montag, eine Erleichterung, nach einem quälend sprachlosen
Sonntag. Sein Sohn hat tief geschlafen – so tief, dass der Oberinspektor
irgendwann ins Zimmer getreten ist, aus Angst, der Junge könnte während der
Nacht gestorben sein. Als er schließlich aufgewacht war, stand die Mittagsglut
in der Wohnung, und auch auf dem Balkon brannte die Sonne zu sehr, um sich dort
hinzusetzen. Ein Frühstück am wackeligen Küchentisch: Brot, Quark,
Leitungswasser, das nur noch aus dem Hahn tröpfelt.
»Bald sitzen wir auf dem Trockenen«, hatte Stave einen Scherz
versucht – und dann nicht gewusst, was er seinem schweigenden Sohn noch hätte
sagen sollen. Was machst du jetzt? Das klingt wie ein Vorwurf. Der Junge muss
doch erst einmal ankommen. Außerdem wüsste Stave nicht, was er ihm raten soll.
An der zertrümmerten Universität studieren? Soll er Ingenieur werden, obwohl
die Alliierten den Deutschen keine Industrie erlauben? Keine Schiffe, keine
Flugzeuge, keine Autos. Lehrer – in den verwüsteten Schulen, vor kriminellen
Kindern? Oder gar: Polizist?
Soll er mit Karl durch Hamburg gehen und ihm dabei zeigen, was in
den letzten Jahren zerstört worden ist? Wie elend das Leben sein wird, das sie
von nun an führen werden? Einem Jungen, der noch vor zwei Jahren glaubte, er
sei als Herrenmensch zu
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