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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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Höchstem berufen. Und der nun wie ein Kuli schuften
wird, um sich überhaupt durchs Leben zu schlagen. Das muss erst einmal bei ihm
einsickern, sagt sich Stave.
    Aber was dann? Kino? Seit Karl zwölf Jahre alt war, ist er mit ihm
nicht mehr zusammen in einen Film gegangen. Er konnte die Wochenschauen nicht
ertragen, das Gedröhne von Hitler und Goebbels. Aber zugleich hat er sich vor
seinem Sohn in Pimpf-Uniform gefürchtet, der seine Gesichtszüge musterte, auf
jedes Zeichen von Schwäche oder Verrat am Führer achtend. Karl wusste genau,
warum sein Vater ihn nicht mehr in einen Filmpalast mitnahm. Er macht sich
Vorwürfe, weil es ihm nie gelungen war, seinen Sohn aus dem Bann der Nazis zu
lösen. Zunächst hatte Stave die Pimpf-Uniform und die nachgeplapperten Sprüche
nicht ernst genommen. Das wird sich auswachsen. Zu spät hatte er erkannt, dass
er Karl an Hitler und Goebbels verloren hatte. Und seit Margarethes Tod hatte
er gar keine Kraft mehr gehabt, um gegen den Sog zu kämpfen, in den sein Sohn
geraten war.
    Und so haben sie am Sonntag nur Belanglosigkeiten ausgetauscht.
Stave vorsichtig und ratlos, Karl einsilbig und erschöpft. Immerhin haben sie
überhaupt miteinander gesprochen.
    Kein Wort von Anna. Wie auch? Wenn wir wenigstens Telefon hätten,
denkt Stave. Die Groschen wäre es mir wert, um zumindest ein paar Sätze mit ihr
zu wechseln, ihr die Dinge zu erklären, sie um ein neues Treffen zu bitten.
    Und so hatte er sich heute Morgen ohne Frühstück aus der Wohnung
geschlichen, hatte seine Ration auf dem Küchentisch für Karl stehen gelassen,
der schlief. Hungrig und durstig war er zwar, aber erleichtert. Stave hatte die
Papiere seines Sohnes mitgenommen und beim Amt für Wohnungswesen eine
Zuzugsgenehmigung beantragt, dazu Lebensmittelkarten, einen ordentlichen
Personalausweis. Das wird dauern, aber Stave will, dass alles seine Ordnung
hat. Er fühlt, dass Karl ihm nicht so leicht entgleiten könnte, wenn er
Dokumente hat mit Stempel und Unterschrift, die amtlich bestätigen, was ihm noch
wie ein Traum erscheint.
    Er kehrte in die Wohnung zurück, legte die Papiere, Formulare und
neuen Unterlagen auf den Küchentisch neben das Brot. Noch immer kein Ton aus
dem kleinen Zimmer. Immerhin hat Karl keine Albträume, in denen er schreit. Das
wird er ihm auch noch beibringen müssen.
    So ist es beinahe schon Mittag, als der Oberinspektor endlich die
Kripo-Zentrale betritt. Als er sich die Stufen langsam hochquält, fällt ihm
plötzlich ein, dass keiner der Kollegen von Karl weiß. Alle kennen die
Geschichte vom verschollenen Sohn. Soll er nun herumerzählen, dass der Junge
wieder daheim ist? Was werden die Kollegen denken, deren Kinder an der Front
geblieben sind? Stave wird sowieso nicht sonderlich geschätzt, das würde ihn
nicht beliebter machen.
    Seine Entscheidung fällt schließlich erst, als er die Tür zum
Vorzimmer öffnet. Erna Berg, schwer und rund, hockt hinter der Schreibmaschine
wie hinter einem Schutzwall. Sie sieht müde aus und traurig. Ihre Scheidung,
denkt Stave, ihr Liebhaber MacDonald, der einbeinige Ehemann, der aus dem Krieg
zurückkehrte, der drohende Prozess, ihre Sorge, den älteren Sohn nicht bei sich
behalten zu dürfen. Nicht der richtige Moment, um von Karl zu erzählen. Und so
nickt er nur, presst sich ein Lächeln ab, verschwindet in seinem Zimmer. Löse
diesen Mordfall, sagt er sich, dann hast du den Kopf frei für alles andere.
    Seine beste Zeugin ist die junge Prostituierte. Könnte
sich lohnen, noch einmal mit Hildegard Hüllmann zu sprechen, denkt er. Das
Mädchen ist ein Wolfskind. Sie war mit dem Mordopfer in Planten un Blomen.
Vielleicht hat sie mehr von Adolfs Schwierigkeiten mit den Kohlenklauern
mitbekommen, als sie beim letzten Verhör angedeutet hat, oder Adolf hat ihr
etwas gestanden. Vielleicht weiß sie, wer von der Bahndammbande ihm besonders
feindlich gesinnt war.
    »Ich bin am Hauptbahnhof. Ermittlungen«, ruft er Erna Berg zu,
während er nach seinem Hut greift. Sinnlos, zunächst zum Mädchenheim in der
Feuerbergstraße zu gehen. Sie wird dort längst ausgerückt sein.
    Der Oberinspektor geht jedoch zunächst am Hauptbahnhof vorbei bis
zum Hansaplatz: Ein beinahe quadratisches Geviert ehemaliger bürgerlicher
Wohlanständigkeit. Ein gepflasterter Platz, umzäunt von fünf- bis
siebengeschossigen Gründerzeitmietshäusern mit weißem, nun teilweise geborstenem
oder geschwärztem Stuck, mit Gesimsen und Pilastern an hohen hölzernen
Eingangstüren. Die

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