Schieber
Jungen in der Nähe.
»Die haben was.«
Stave geht hinüber, mit jedem Schritt, den er näherkommt, leuchtet
das Lächeln stärker auf den Gesichtern der Bengel. »Eure Papiere, bitte«,
verlangt er schmunzelnd.
»Den Spruch haben wir schon ein paar Mal gehört«, antwortet der
Älteste aus der Bande, der höchstens vierzehn Jahre zählt. Er hält einige
grüne, graue und rosafarbene Blätter hoch.
»Das sind städtische Formulare!«, entfährt es Stave.
»Berechtigungsscheine, Einweisungen, Genehmigungen. Die rollen Sie
zum Trichter. Ich finde, das Eis schmeckt in der Beantragung eines
Wohnungsberechtigungsscheines am besten.«
»Nur nicht frech werden. Wo habt Ihr das gestohlen?«
»Haben wir nicht!«, entrüstet sich der Junge. »Wir waren heute
Morgen auf dem Amt und haben jedes Formular gekauft. Kostet zwei Pfennige das
Stück.«
»So günstig kommen wir nicht davon?«, mischt sich MacDonald ein, nun
wieder heiterer gestimmt.
»Zehn Pfennig, dann dürfen Sie sich ein Formular aussuchen.«
»Netter Schnitt«, brummt Stave. Wenn das die neue Zeit ist, denkt
er, dann bekomme ich ein Problem.
MacDonald schnippt den Jungen zwei Münzen zu und nimmt sich die
Papiere. Beim Karren lässt er sie mit Vanilleeiscreme füllen.
»Meinen Sie, die Jungen und der unfreundliche Alte arbeiten
zusammen?«, fragt der Lieutenant, nachdem sie einige Schritte
weitergeschlendert sind.
Stave schüttelt den Kopf. »Der Kerl ist so missmutig, weil er nicht
selbst auf diese Idee gekommen ist. Er kann die Jungs nicht verscheuchen, denn
dann ruiniert er sich sein eigenes Geschäft. Allerdings schöpfen ihm die Bengel
den Rahm ab, da jeder Kunde zuerst bei ihnen kaufen muss, bevor er sich das Eis
bestellt. Je teurer die ihre Formulare verkaufen, desto weniger Geld bleibt
nachher für das Eis übrig. Kluge Bürschchen.«
»Klüger als ich«, wirft MacDonald ein. Seine kurze Hochstimmung ist
verdampft.
»Sie haben noch acht Tage Zeit, sich etwas zu überlegen. Ihnen fällt
sicher etwas ein. Außerdem haben Sie doch gewisse Verbindungen.«
MacDonald blickt kurz zu ihm hinüber, schüttelt dann den Kopf.
»Oberste Regel im Verein: Keine Aufmerksamkeit erregen. Ein Scheidungsprozess
ist ungefähr das Letzte, was meine Vorgesetzten tolerieren. Da könnte ich eher
zu den Russen desertieren.«
»Sie werden den Prozess durchstehen müssen. Ohne Scheidung können
Sie Erna Berg nicht mit nach England nehmen. Und die Stellung Ihres gemeinsamen
Kindes wäre auch recht prekär.«
»Das haben Sie fein ausgedrückt. Ich kann den Prozess in der Tat
nicht verhindern. Aber ich will ihn zu einem guten Ende bringen.«
»Mit einer Erfolgsmeldung bei Ihren Vorgesetzten, die so
beeindruckend ist, dass man Ihnen diese Affäre nachsieht.«
»Ja. Ich kann nicht verhindern, dass die Scheidung hässlich werden
wird. Aber ich könnte dafür sorgen, dass dieser Skandal weder Ernas noch meiner
Zukunft schadet. Unter einer Bedingung könnte ich sie heiraten, ohne dass man
mich beim Dienst wegen dieser Affäre versetzt: Lösen wir den Mord bei Blohm
& Voss, dann werden wir alle glücklich.«
»Vorausgesetzt, uns gelingt das innerhalb der nächsten acht Tage.«
»Wenn Sie länger brauchen, alter Junge«, sagt MacDonald und lächelt
sarkastisch, »dann schicken Sie mir Ihre Berichte nach Jerusalem.«
»Ab nach Palästina?«
»In den nächsten Krieg. Araber gegen Juden. Die hassen sich
gegenseitig und uns Engländer hassen sie noch mehr. Keine Gefahr, dass ich dort
mit einer Einheimischen anbandeln werde. Dafür stehen die Chancen nicht
schlecht, dass ich mit einer Kugel oder einem Bombensplitter im Leib ende. Das
würde dann den Scheidungsprozess deutlich vereinfachen.«
»In acht Tagen kann viel geschehen«, erwidert Stave. »Und danke für
das Eis.«
Abends hält es Stave nicht lange in seiner Wohnung aus. Er
macht sich auf zur Schrebergartensiedlung in Berne. Mal sehen, wo Karl jetzt
lebt. Er braucht eine Dreiviertelstunde dorthin. Manchmal nimmt er Abkürzungen,
quert Trümmerfelder, die früher Mietshäuser waren, klettert über Schuttberge.
Das Rascheln schneller Rattenfüße, wenn er näherkommt. Spatzen und Amseln.
Hohes Gras, Büsche, ein, zwei junge Birken, die aus den Ruinen emporwachsen.
Ein mehrstöckiges Gebäude, dessen Fassade fortgerissen worden ist, das Dach ist
weggesprengt, die Fenster sind zersplittert. Die einzelnen Etagen hängen in den
noch stehenden Seitenmauern wie die Böden eines gigantischen Regals, auf denen
Riesenspielzeug
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