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Schieber

Schieber

Titel: Schieber Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C Rademacher
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steht: eine von Regen und Frost gezeichnete Kommode,
unerreichbar für Plünderer, eine weiß glänzende Toilette, die so freistehend
irgendwie obszön aussieht, ein schief hängendes Ölbild an einer Wand.
    Das würde Anna interessieren. Er fragt sich, was sie gerade macht.
Wird sie, kurz vor der Sperrstunde, irgendwo durch die Ruinen streifen, den
geschulten Blick auf Ziegelhaufen gerichtet? Auf der Suche nach Hohlräumen,
nach nur halb zerschmetterten, hinter Geröll und Steinen verborgenen Zimmern?
Dort, so hat sie ihm verraten, birgt sie die besten, die unbeschädigten
Kunstwerke und Antiquitäten. Eine Familienbibel, eine Standuhr, eine filigrane
Teetasse aus Meissner Porzellan, die ohne jeden Sprung einen Bombenangriff
überstanden hat, der ein ganzes Wohnviertel zertrümmerte. Würde sie für jenes
Ölbild ihr Leben riskieren und versuchen, in das einsturzgefährdete Wrack eines
Hauses zu klettern, um bis zu dem Schatz zu gelangen? Wie oft hat sie so schon
ihr Leben riskiert, und er weiß es nicht?
    Er erreicht den Bach, dem er stromaufwärts folgt, um die
Schrebergartenkolonie zu erreichen. Ein Rinnsal nur. Der schlammige Grund liegt
größtenteils trocken, von der Sonne zu einer rissigen, harten Masse verbacken.
Stave hat Durst, obwohl ihm der Gestank nach Fäulnis entgegenwabert. Ein
hölzernes Tor, einst grün gestrichen, nun ausgebleicht, vor einem Feldweg,
darüber ein Schild: »Kleingartenverein von 1904 e. V.«
    Eine hohe, stachlige grüne Hecke, Kieswege, Zäune aus Brettern oder
Drahtgeflecht, die ein Schachbrettmuster formen. Winzige Felder in akkuraten
Reihen bepflanzt, Kartoffeln, Kopfsalate, Kohlköpfe, Karotten, Bohnen am
Spalier, großblättrige Tabakpflanzen, darüber die schattenspendenden Äste von
Kirsch-, Apfel- und Birnbäumen. In jedem Viereck eine Laube, meistens
zimmergroße Holzhütten, auf drei Parzellen neue, aus Ziegeln gemauerte
Häuschen, die wie überdimensionierte Puppenstuben aussehen: mit Tür, Fenstern,
Giebel, Schindeldach, ordentlich verputzt, doch nur halb so groß wie die
Häuser, die man früher baute, vor dem Krieg. Kleine Schlösser der
Kriegsgewinnler, die mit ihrer Parzelle zu einem bescheidenen Vermögen kamen.
Früher war es verboten, in den Gartenkolonien Gebäude zu errichten, in denen
man das ganze Jahr über wohnen kann. Heute ist man froh über jede Bleibe, in
denen Hamburger unterschlüpfen. Kein unbestechlicher städtischer Kontrolleur
mehr, der hier noch irgendjemanden verscheuchen würde.
    Stave hofft, dass Karl in einem der Häuschen untergekommen ist. Doch
nachdem er dort jeweils angeklopft hat, weiß er es besser: Ein mürrischer,
misstrauischer Mann, den er im dritten Haus aus seinem Schlaf gerissen hat,
weist ihm schließlich den Weg. Es ist die hinterste Parzelle der Anlage, ein
Viereck, begrenzt vom stinkenden Bach zur Linken, einer Nachbarparzelle zur
Rechten, einem verwilderten Wäldchen jenseits der Hecke, die um die ganze
Anlage herumläuft. Am Rand der Parzelle erhebt sich eine Baracke, die diesen
Namen kaum verdient: ein Würfel aus mit weißer Ölfarbe gestrichenen Brettern,
darin eine schiefe Tür, aber keine Fenster, obendrauf ein zerbeultes
Wellblechdach, durch das ein verrostetes Ofenrohr führt. Davor, auf einer Art
Terrasse aus zerborstenen Platten, die man aus irgendeiner Ruine geborgen und
nachlässig in den Boden geklopft hat, ein Holztisch und zwei Stühle. Den Rest
des Grundstücks bedecken die Blätter üppig wuchernder Tabakpflanzen. Kein
Gemüse, kein Obst, das hier angebaut wird, wie Stave betrübt feststellt.
    Sein Sohn kniet zwischen den fleischigen, armlangen Blättern und zupft
Unkraut aus. Sein Oberkörper ist blank, schweißglänzend, gerötet unter der
Sonne. Wie mager er ist, denkt Stave. Er hebt die Hand zum Gruß.
    »Heil Hitler!«, antwortet Karl. Als er den Blick seines Vater
bemerkt, wedelt er abwehrend mit seinen dreckverkrusteten Händen. »War nur ein
Scherz.«
    »So ein Scherz kann dir heute Gefängnis einbringen.«
    »Bist du gekommen, um mich zu verhaften?«
    Das fängt ja gut an, denkt Stave. »Ich möchte nur sehen, wie es dir
geht«, erklärt er versöhnlich.
    Sein Sohn richtet sich auf, umfasst mit einer Geste die Parzelle –
einer durchaus besitzerstolzen Geste, wie sein Vater erstaunt bemerkt. »Darf
ich vorstellen? Der Grundstock der zukünftigen Weltmarke ›Karl Stave Classic‹.
Mild, bekömmlich und nur halb so teuer wie eine John Players.«
    »Du willst tatsächlich Zigaretten

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