Schief gewickelt (German Edition)
Talkshow-Auftritt Daniel:
»Danken möchte ich vor allem meinem Vater, ohne den ich niemals Popstar, Champions-League-Sieger und Bundeskanzler geworden wäre. Er musste viel ertragen. Ich habe ihm Schlaf und Nerven geraubt und ihn immer wieder in aller Öffentlichkeit bloßgestellt. Mit den Sportteilen, die er meinetwegen nicht gelesen hat, könnte man den kompletten Rasen des Berliner Olympiastadions abdecken. Nur wegen mir konnte er erst drei Jahre später als geplant mit dem Aufbau seiner heute weltberühmten Firma beginnen. Und das war noch lange nicht alles. Ich habe durch mein Zur-Welt-Kommen den Hormonhaushalt seiner attraktiven Frau so nachhaltig durcheinandergebracht, dass die sexuelle Aktivität meines Vaters schlagartig um neunzig Prozent in den Keller sank, wo sie für viele Jahre blieb. Und er musste auch noch mit ansehen, wie ich ihre Brüste kleingetrunken habe. Kann ein Mann ein größeres Opfer bringen?«
Ja, genau. So etwas sollte endlich mal gesagt werden. Ist doch wahr. Simone oben ohne am Strand von La Gomera, das war früher wirklich nichts für schwache Nerven. Gut, objektiv betrachtet hat sich vielleicht nicht sooo viel verändert, aber ihr Busen ist kleiner geworden, Punkt. Auch wenn es außer mir keiner merkt. Und ein kleiner gewordener Busen ist für Männer nun mal genauso wie für einen Ami der Entzug der heimischen Klimaanlage. Once you have it, you can’t live without it. Daniel, du mit deinem gnadenlosen Saugmund. Elender Kunstschänder … O nein, er ist aufgewacht. Ich höre ihn kommen. Nicht jetzt, bitte. Bin gerade nicht gut auf dich zu sprechen, und meine Powerpoint …
»Papa?«
»Hmgrmpf.«
»Mein Kuss ist alle.«
»Hm?«
»Kannst du mir noch einen geben?«
Die Worte tröpfeln sich langsam ihren Weg durch mein Hirn. Ich schmeiße den Laptop samt nicht gespeicherter Datei in die Ecke, breite die Arme aus, drücke meine Lippen tief in seine zarten Wangen und finde mein Leben wieder ganz in Ordnung.
*
Inzwischen prasselt der Regenguss herunter, den ich mir für heute Vormittag gewünscht hätte. In solchen Situationen gibt es viele Möglichkeiten, sich die Zeit mit Daniel um die Ohren zu schlagen. Man kann ihm Kinderbücher vorlesen und sich die Finger zwischen den dicken Pappseiten einquetschen lassen, wenn er aus heiterem Himmel beschließt, umzublättern. Oder man kann sich von ihm verdonnern lassen, Bauklotztürme zu bauen, und zusehen, wie er sie umwirft. Oder man kann zusammen mit ihm auf seinem Kinderherd kleine Mahlzeiten aus Murmeln, trockenen Nudeln und Luftschlangen zubereiten, die er anschließend auf den Boden kippt und nach allen Regeln der Kunst im Raum verteilt – der Fantasie sind keine Grenzen gesetzt. Die bei weitem angenehmste Option ist aber, den Fernseher anzumachen und eine Ballett-DVD einzulegen.
Ja, Ballett.
Simone hat als Mädchen Ballett getanzt. So kam es, dass irgendwo ein uralter Schwanensee -Videomitschnitt in unserer Sammlung vor sich hinstaubte, bis Daniel ihn eines Nachmittags herausgewühlt hat. Ich hatte zu diesem Zeitpunkt schon ein Bier getrunken und deswegen den Schalk im Nacken sitzen. Ich schob die Kassette ein und sagte: »Schau mal, die tanzen Ballett.« Daniel schaute. Eine halbe Stunde. Eine Stunde. Anderthalb Stunden. Er bewegte sich nicht vom Fleck. Simone kam nach Hause, war gerührt, und wir ließen ihn weiterschauen, während wir zu Abend aßen. Als nach zweieinhalb Stunden der letzte Vorhang gefallen war, kam Daniel in die Küche.
»Nochmal den Ballett schauen.«
Ab diesem Tag musste die alte Schwanensee -Kassette jeden Abend ran. Mindestens einmal die ganze Aufführung. Und ich musste immer meinen Körper als Ohrensessel für Daniel zur Verfügung stellen.
Einmal der ganze Schwanensee . Das ist verdammt lang. Anfangs habe ich mit meinem Schicksal gehadert. Mal hier und da eine Sesamstraße und dann, zu gegebener Zeit, die von mir behutsam gesteuerte Einführung in die Welt des Fußballs, so hatte ich mir eigentlich den Beginn der Fernsehkonsumentenkarriere meines Sohns vorgestellt. Aber ich fand mich schnell mit meinem Schicksal ab. Vor allem der vierte Schwan von links in der zweiten Reihe hatte es mir angetan. Dem Kameramann offensichtlich auch, denn die Tänzerin wurde oft in Nahaufnahme gezeigt. Den wünschenswerten anschließenden Hintergrundbericht aus den Umkleideräumen der Pariser Oper gab es zwar nicht, aber den hätte mich Daniel vermutlich sowieso nicht sehen lassen.
Nachdem wir drei Monate mit
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