Schief gewickelt (German Edition)
Schwanensee verbracht hatten, beschlossen Simone und ich, dass es Zeit für eine Erweiterung unseres Studienfelds war. Simone brachte den Nussknacker und das Dornröschen mit. Daniel und ich stürzten uns drauf. Er war froh, neue Tänze zu sehen, und ich fand weitere Lieblingstänzerinnen.
Kurz und gut, ich habe meine Wege gefunden, mich mit Ballett anzufreunden. Hin und wieder eine kleine Frotzelei von besonders humorbegabten Freunden, so von wegen Eiteitei, dein Sohn ist schwul , aber damit kann man leben.
Heute ist der Nussknacker dran. Einmal von vorne bis hinten. Macht einschließlich Vorspann und Verbeugungen genau zwei Stunden und dreiundzwanzig Minuten. Um 15:34 Uhr drücke ich auf die Starttaste. Perfektes Timing. Es wird keine Konflikte mit der Sportschau um 18:10 Uhr geben.
Ich atme durch und feiere still für mich meine persönlichen Höhepunkte ab: Die Schneekönigin im knappen Silberdress, die arabische Schleiertänzerin mit den langen Beinen, die Kleine aus der vordersten Reihe beim Blumenwalzer und, nicht zu vergessen, die brünette Cellistin im Orchestergraben. Brillante Kamera, wirklich.
Irgendwann erschrecke ich dann wieder über mich und meine heimliche Ballett-Spannerei. Manchmal frage ich mich, wann das eigentlich angefangen hat. Ich meine, nicht dass mein bisheriges Leben größtenteils von Sexorgien geprägt gewesen wäre, aber ich wurde von Simone und ihren Vorgängerinnen doch immerhin mit so viel zärtlicher Zuwendung bedacht, dass mir die Hefte ganz oben links im Supermarktregal schon lange keine verstohlenen Blicke mehr abnötigten. Und spätestens nach unserer völlig durchgeknallten Sex-aufder-Waschmaschine-Phase fühlte ich mich in einem Lebensabschnitt angekommen, in dem auch guter Wein oder ein Blick in eine schöne Landschaft einen Höhepunkt markieren können.
Aber irgendwie habe ich den Verdacht, dass meine neue peinliche Neigung damit zu tun haben könnte, dass meine gewohnten Zuwendungsrationen mit Daniels Geburt auf einmal weggebrochen sind. Der kleine Racker schafft es dauernd, die ganze Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, Simone leidet unter ihrer latenten Rabenmutter-Neurose, und ihr schwangerschaftsbedingt schwer gebeutelter Hormonhaushalt tut ein Übriges – da kommst du als Mann eben oft zu kurz, musst viel Verständnis aufbringen und brauchst einen langen Atem. Aber irgendwann fängst du dann halt an, den Schwanensee -Schwänen und Schneeköniginnen hinterherzugucken. So weit meine Theorie. Ich muss das weiter beobachten.
17:54 Uhr ist die Sache gelaufen. Fernseher aus, Gliedmaßen gereckt, Daniel in den am weitesten vom Fernseher entfernten Ort der Wohnung gelockt und dort an Simone übergeben. Eine Meeresalgengesichtsmaske, die neue Gala und anderthalb Stunden Telefonieren haben ihr inneres Gleichgewicht wiederhergestellt. Eigentlich sollte jetzt nichts mehr schiefgehen.
Männer und Frauen sind doch nicht so verschieden, denke ich, als ich die Sportschau einschalte. Ersetze die Gala durch ein gutes Fußballspiel, die Meeresalgengesichtsmaske durch eine Flasche wohltemperiertes Bier und das Telefonieren durch lustvolles Schweigen – fertig. Mein Körper wird eins mit dem Sessel. Die Bundesligasaison ist noch jung. Heute will ich jede Sekunde genießen. Den Vorspann, die als Anmoderation getarnten Werbeblöcke, das Tor der Woche, alles.
Erstes Spiel, Hertha gegen Bremen. Kriegen die Berliner natürlich eins auf die Mütze. Seit Marcelinho weg ist, geht bei denen gar nichts mehr. Nein, Daniel soll kein Herthaner werden. Wir sind zwar Wahlberliner, aber so weit geht die Liebe nicht.
Zweites Spiel, Leverkusen gegen Freiburg. Na gut, Freiburger kann er meinetwegen werden, wenn er unbedingt will. Kann man nichts gegen sagen. Aber andererseits wäre es doch gelacht, wenn ich keinen Duisburger aus ihm machen kann. Das erste drohende Unheil ist immerhin schon erfolgreich abgewehrt: der gelb-schwarze Dortmund-Strampelanzug, den mein Bruderherz Hubert gleich zur Geburt geschickt hat. Ich wollte ihn verbrennen, aber Simone hat ein Machtwort gesprochen. Strampelanzug ist Strampelanzug, und der wird angezogen. Wir schmeißen doch kein Geld zum Fenster raus, außerdem sei Hubert mein Bruder und so weiter. Drei qualvolle Tage später hat Daniel den Dortmund-Strampelanzug dann nach allen Regeln der Kunst vollgeschissen. Das Bild ging sofort per E-Mail an Hubert, und ich entwickelte die Theorie, dass mein Sohn und ich uns auf einer übersinnlichen Metaebene perfekt
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