Schiff der tausend Träume
solchen Verlust, den Schmerz und die Leere überlebt?
Er erschien tagtäglich bei der Arbeit, kletterte auf Kräne und Gerüste und saß hoch über den Baustellen. Arbeit war der Schlüssel, Arbeit war Trost, und er baute von neuem seinen Ruf als ein Mann auf, der zuverlässig und vertrauenswürdig war, so dass man ihn auswählen und anderen, erfahreneren Einheimischen vorziehen konnte.
Heute würde er früher Schluss machen, sein bestes Hemd und seine Jacke anziehen und sich zur St. Patrick’s-Kirche in der Mulberry Street begeben, um an der besonderen Messe teilzunehmen. Dort wollte er neben anderen trauernden Angehörigen eine Kerze für Maria und die Kleine anzünden.
Er kannte inzwischen viele Iren vom Sehen, die alten Frauen und jungen Mädchen, die Rothaarigen, die neben ihm knieten. St. Pat’s war wie ein Leuchtfeuer im Dunkeln, ein Platz, an dem man sitzen, den Weihrauch einatmen und sich in dieser lauten, aufdringlichen Stadt sicher fühlen konnte.
Angelo mochte die Kirche gern. Sie erinnerte ihn an zu Hause. Die Steine waren kühl unter seinen Händen. Pater Bernardo hatte sie alle durch eine schwere Zeit begleitet wie ein echter Hirte, aber dies war eine Messe, die alle Erinnerungen an jene verregnete Nacht im April vorigen Jahres heraufbeschwor.
Die junge Frau im karierten Schal saß wieder vor ihm, ihre kupferfarbenen Locken im Nacken so zusammengefasst, dass sie ihr über den Rücken fielen. Er hatte sie bei der Parade auf der Straße gesehen. Sie weinte heftig, und eine der Schwestern berührte ihren Arm.
»Na, Kathleen, sie sind jetzt alle bei den Engeln … Ich weiß, es ist nicht leicht, aber sie würden nicht wollen, dass du es so schwernimmst.«
Angelo bemühte sich, seine eigenen Tränen zurückzuhalten. Er wusste nur zu gut, was sie in diesem Augenblick fühlte. Als der Gottesdienst vorbei war, erhob er sich und wollte schon gehen, doch die Schwestern führten sie in den Gemeindesaal. »Du brauchst jetzt eine Tasse starken Tee. Der ist hinten angerichtet. Komm, Angelo, du auch. Nach einem harten Arbeitstag musst du Durst haben.«
Lieber hätte er ein Fass Whisky geleert, aber er folgte den anderen. Sie nahmen verlegen Platz, Fremde, die durch diese schreckliche Verkettung von Ereignissen verbunden waren. An dem süßen Tee mit Milch erstickte er beinahe. Die junge Frau mit dem Schal schaute zu ihm herüber und lächelte. Sie hatte die grünsten Augen, die er je gesehen hatte, wie geschliffener Marmor. Er erwiderte ihr Lächeln, und ihre Wangen wurden rot.
»Meine Schwester, Mary Louise, ist in Queenstown an Bord des Schiffes gegangen«, flüsterte sie. »Und bei Ihnen?«
»Meine Frau«, erwiderte er. »Maria und unsere
bambina
aus Italien, in Cherbourg.«
»Sie Ärmster.« Sie schüttelte mitfühlend den Kopf. »Es vergeht nie, nicht wahr?«
Plötzlich war er froh, dass er sein Hemd gewechselt und sein wildes schwarzes Haar gebändigt hatte; erleichtert, dass Anna ihn angehalten hatte, den Staub der Baustelle abzubürsten, bevor er zur Messe ging.
Alle saßen zusammen, tranken Tee, unterhielten sich höflich in ihren Landessprachen. In wenigen Augenblicken würden sie für das nächste Jahr wieder getrennter Wege gehen.
Auf den Stufen der Kathedrale zögerte die junge Irin noch, schlang sich ihren Schal um die Schultern und gab Angelo die Chance, sie einzuholen. Es war noch nicht dunkel, und er fühlte sich zu ihr hingezogen. »Es ist eine
bella notte
, ein schöner Abend für einen Spaziergang um den Block, eine
passeggiata
, wie es in meinem Land heißt«, schlug er vor, ihre schmächtige Gestalt überragend.
»Ja, auf jeden Fall, es ist zu schön, um drinnen zu sitzen«, erwiderte sie. Sie schauten sich schüchtern an und wandten sich dann ab.
»Ich heiße Kathleen O’Leary. Und Sie …?« Sie hielt inne. »Ich kann nicht mit einem Fremden herumlaufen.«
Angelo verbeugte sich und zog seine Kappe. »Angelo Bartolini«, antwortete er, wobei sie ein paar Stufen zum Bürgersteig und dem regen nächtlichen Treiben von Manhattan hinuntergingen.
Sie sahen nicht, wie Pater Bernardo ihrer Begegnung ein segensreiches Lächeln schenkte, während er beobachtete, wie Kathleen sich bei Angelo unterhakte, noch hörten sie, wie der freundliche Priester vor sich hin murmelte: »Die Wege des Herrn sind unergründlich.«
40
November 1913
Tut mir leid, dass ich erst so spät schreibe, aber ich habe ein paar eigenartige Neuigkeiten vernommen. Es wurde eine öffentliche
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