Schiffe versenken
auf die Mangroven, denn es würde ihn Stunden kosten, um auf diesem Weg durch dieses Gestrüpp auch nur ein paar Kilometer zu schaffen; und der Weg konnte sich zehn oder zwanzig Kilometer weit ins Land ziehen. Da war es sinnvoller, am Strand entlangzugehen, wo er vielleicht auf Menschen oder ein Fischerdorf traf, wo er um Wasser und etwas zu essen bitten konnte. Natürlich musste er dabei sehr vorsichtig sein, denn die meisten der Piraten waren Einheimische gewesen, und ohne Zweifel war sein Steckbrief bereits von Mund zu Mund weitergegeben worden. Also musste er erst mal eine gewisse Distanz zu seinem Schiff zurücklegen, ehe er sich im ungeschützten Revier auf den Weg machen konnte. Er beschloss, sich nach Norden zu wenden, wo der allgemeine Schiffsverkehr, wie er wusste, über den Fluss nach Palembang hinauffuhr.
Er watete auf wackligen Beinen aus dem flachen Wasser, während ihn eine weitere Schmerzwelle überlief. Trotzdem kämpfte er sich vorwärts, versuchte, um die größten Mangroven herumzugehen und stolperte durch den Schlick. Als die Sonne aufging, wurde es heiß und dunstig, ihre Strahlen brannten vom Himmel und wurden glitzernd vom Wasser reflektiert. Hamnets Gedanken wanderten zu den Ereignissen der vergangenen Nacht zurück.
Offensichtlich wurde gerade eine der vielen Varianten des alten »Rosteimer«-Betrugs gespielt: Man heuert eine Mannschaft an, die den illegalen Verkauf einer wertvollen Ladung erledigt, ehe das Schiff auf offenem Meer versenkt wird, sodass man von der Versicherung noch einmal abkassieren kann. Die Masche mit dem GPS hatte vermutlich dem gleichen Ziel gedient und das Risiko minimiert. So vermied man Schwachstellen. Er war den Verbrechern zwar auf die Schliche gekommen, aber zu spät. Seine Mannschaft hatte dafür mit dem Leben bezahlt. Und Anna? Wie mochte es ihr und den Babies gehen? Vielleicht lag ihre Zukunft noch in seiner Hand, um den Preis, dass er stillhielt und den Piraten freie Hand ließ. Aber konnte er tatenlos akzeptieren, dass alle Mannschaften, auf jedem weiteren Schiff, das die Piraten angriffen, ermordet wurden?
Er maß die Zeit mithilfe seiner Schritte. Sein Kopf pochte, während er sich vorwärts kämpfte, zwei Schritte, er rutschte aus, platschte ins Wasser, und ein Fuß verklemmte sich unter einer Wurzel. Doch er konnte sich wieder befreien. Durst machte ihm zu schaffen. Visionen tauchten verschwommen und in unregelmäßigen Abständen in seiner Vorstellung auf und quälten ihn. Über allem lag die schwere tropische Luft. Plötzlich durchbrach ein regelmäßiges Klopfen die Stille, das immer lauter wurde. Hamnet blieb stehen und identifizierte das Geräusch eines Außenborders. Er schien sich von links zu nähern, offensichtlich direkt aus den Mangroven. Kaum war er im hüfthohen Wasser so weit untergetaucht, dass nur noch sein Kopf herausragte, schoss ein kleines Holzboot zwischen den Blättern hervor. In höchstens hundert Metern Entfernung. Das Steuerborddollbord schnitt unter, als das Boot in einer Rechtskurve direkt auf ihn zuhielt, und im Boot sah er drei Männer, die die Wasserlinie im Visier hatten. Und er sah das im Bug montierte Gewehr. Ohne eine Sekunde zu verlieren, atmete er tief ein und tauchte unter, bekam am Grund eine Mangrovenwurzel zu fassen und hielt sich dort fest.
Die Zeit verstrich. Hamnet wusste aus Erfahrung, dass er die Luft unter Wasser ein paar Minuten lang anhalten konnte, bei der Geschwindigkeit des Bootes von zehn Knoten konnte er so lange unten bleiben, bis es an die sechshundert Meter entfernt und er in Sicherheit war. Er begann zu zählen. Tausend, zweitausend, dreitausend … Er beobachtete den Wasserspiegel genau und entdeckte kein Zeichen für einen Wellenschlag – vielleicht konnte er es sogar fühlen, wenn das Boot über ihn wegrauschte. Eine Minute. Und tausend, zweitausend, dreitausend … Keine Erschütterung, keine Wellenbewegung – das Wasser blieb ruhig. Er musste wieder rauf, solange er noch genug Sauerstoff in der Lunge und alles unter Kontrolle hatte, um der Belastung standzuhalten, wenn er zurück an die Wasseroberfläche kam. Dreißigtausend. Er war fast am Limit. Während er seine Beine in Position hielt, ließ er die Wurzel los und stieg auf.
Durch das Wasser in seinen Augen konnte er im ersten Moment kaum etwas erkennen, aber er brauchte nicht weit zu sehen – das Boot war nur zehn Meter weit weg. Ein Adrenalinschub verbrauchte den restlichen Sauerstoff in seinen Lungen, die Augen traten ihm fast aus
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