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Schiffsmeldungen

Titel: Schiffsmeldungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Stellinge zum Fischtrocknen. Einen so geheimen und verfallenen Ort hatte Quoyle nicht erwartet. Trostlos; und die Tücke der versteckten Fahrrinne verlieh ihm etwas von einem Piratennest.
    »Sonderbarer Ort«, sagte Quoyle.
    »Die Guckinsel. Drüben in Killick-Claw sagten sie früher, daß die Leute von der Guckinsel für zwei Dinge bekannt wären – sie wären alle Seebären, wüßten, wie man Fisch aufspürt, und sie wüßten mehr über Vulkane als sonst jemand in Neufundland.«
    Billy fuhr das Boot bis zum Strand, stellte den Außenborder ab und zog ihn hoch. Stille außer dem Tröpfeln des Wassers von der Schraube und dem Kreischen der Möwen. Billy keuchte und spuckte, zeigte die Bucht entlang auf ein Gebäude, das von der Küste zurückgesetzt war.
    »Das is’ unser altes Haus.«
    Einst rot gestrichen, durchs Salzwetter zu einem trüben Rosa ergraut. Ein Stück kaputter Zaun. Billy packte seine Tasche und sprang aus dem Boot, seine Stiefelabsätze hinterließen im Sand Halbkreise. Vertäute die Leine an einem in den Felsen gerammten Rohr. Quoyle kletterte hinterher. Die Stille. Nur das kratzende Geräusch ihrer Stiefel und das Raunen des Meeres.
    »Fünf Familien lebten hier, als mein Vater noch ein Kind war, die Pretty’s, die Pools, die Sops, die Pilleys und die Cusletts. Alle Familien waren untereinander verheiratet. Junge, das waren freundliche, gute Menschen, und solche gibt’s heut nich’ mehr. Jetzt heißt’s: Jeder Mann für sich. Und jede Frau auch.«
    Er versuchte, ein umgefallenes Stück Zaun aufzurichten, aber es zerbrach ihm in den Händen, und er riß nur das Gestrüpp von dem stehenden Teil, stützte ihn mit Steinen.
    Sie gingen zu dem hohen Ausguck, der der Insel ihren Namen gegeben hatte, einer Kuppe am Rand des Kliffs mit einem Fichtendickicht in einer Ecke, das Ganze von einer niedrigen Steinmauer gesäumt. Quoyle drehte sich um, konnte in das Halbrund des Hafens hinabsehen, konnte sich wieder drehen, auf das offene Meer sehen, auf ferne Schiffe mit Kurs nach Europa oder Montreal. Unten flüssiger Türkis. Im Norden zwei gestärkte Eisberglaken. Dort der Rauch von Killick-Claw. Weit im Osten, fast unsichtbar, ein dunkles Band wie gewickelte Gaze.
    »Von hier aus konnten sie in jeder Richtung weit draußen die Schiffe sehen. Sommers brachten sie die Kühe hier herauf. Keine Kuh in Neufundland hat je eine bessere Sicht gehabt.«
    Sie gingen über das Moos und Heidekraut zu einem Friedhof. Ein Zaun aus einfachen Pfählen umschloß Kreuze und Gedenktafeln aus Holz, viele umgestürzt, die Lettern im kalten Licht verblaßt. Billy Pretty kniete sich in die Ecke, zupfte an wildem Gras. Der obere Teil der Gedenktafel war in drei Bögen geschnitten, so daß es einem Stein ähnelte, die Farbe noch lesbar:
    W. PRETTY
geb. 1897 – gest. 1934
IN DEN GROSSEN STÜRMEN GAB ER SEIN BESTES.
GOTT GEWÄHRE IHM EWIGE RUHE.
    »Das ist mein armer Vater«, sagte Billy Pretty. »Fünfzehn war ich, als er starb.« Er scharrte weiter, rupfte Unkraut aus einem Rahmen in Sargform, der das Grab umgab. Er war mit einem noch kenntlichen Muster aus schwarzen und weißen Rauten bemalt.
    »Hab’ ich bei meinem letzten Besuch aufgefrischt«, sagte Billy, öffnete seine Tasche und nahm Dosen mit Farbe heraus, zwei Pinsel, »und jetzt tu’ ich’s wieder.«
    Quoyle dachte an seinen eigenen Vater, fragte sich, ob die Tante seine Asche noch hatte. Es hatte keine Feier stattgefunden. Sollten sie eine Gedenktafel aufstellen? In ihm stieg ein schwaches Gefühl von Verlust auf.
    Plötzlich sah er seinen Vater vor sich, sah die Spur aus Erdkirschenschalen, die vom Obstgarten um den Rand des Rasens führte, wo er entlanggegangen war, als er sie gegessen hatte. Der Mann hatte eine Leidenschaft für Obst. Quoyle erinnerte sich an lilabraune Seckelbirnen, von der Gestalt und Größe von Feigen, in deren Fleisch sein Vater die Zähne schlug wie ein Vogel den Schnabel, den Geruch von Obst in ihrem Haus, die Kerngehäuse- und Schalenabfälle in den Aschenbechern, die Gerippe von Weintrauben, Pfirsichkerne wie Hühnergehirne auf dem Fenstersims, den Bananenschalenhandschuh auf dem Armaturenbrett. Im Sägemehl auf der Werkbank im Keller Galaxien aus Obstkernen und -steinen, Kirschkernen, langen weißen Dattelkernen wie Raumschiffen. Im Kühlschrank Erdbeeren, und im Juni das an einer Landstraße abgestellte Auto und sein Vater, auf den Knien im Gesträuch, Walderdbeeren pflückend. Die ausgehöhlten Grapefruitschädel, gesprungene Kugeln

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