Schiffsmeldungen
aus Mandarinenschalen.
Andere Väter nahmen ihre Söhne mit zum Angeln und Zelten, aber Quoyle und sein Bruder machten Heidelbeerexpeditionen. Sie greinten vor Wut, während ihr Vater in den Büschen verschwand und sie mit Plastikbehältern in der sauren Hitze stehenließ. Einmal pflückte der Bruder, das Gesicht vor Weinen und Insektenstichen geschwollen, nur fünfzehn bis zwanzig Beeren. Der Vater kam zu ihnen zurück, die Arme gespannt vom Gewicht zweier randvoller Eimer. Da fing der Bruder zu weinen an, deutete auf Quoyle. Sagte, Quoyle habe die Beeren genommen. Der Lügner. Quoyle hatte einen halben Liter gesammelt, der Boden seines Eimers war anständig bedeckt. Bekam eine Abreibung mit einem Zweig von einem Heidelbeerbusch, daß es beim ersten Schlag Beeren regnete. Auf dem Nachhauseweg starrte er in die Eimer, beobachtete grüne Würmer, Baumwanzen, Ameisen, Blattläuse, hinkende Spinnen über Kanäle zur Beerenoberfläche heraufkriechen, wo sie herumzappelten und staunten. Die Hinterseiten seiner Oberschenkel brannten.
Der Mann verbrachte Stunden im Garten. Wie viele Male, dachte Quoyle, hatte sein Vater sich auf seine Hacke gelehnt und die Reihen Stangenbohnen entlanggeblickt, gesagt: »Ein gutes Stück Boden haben wir hier, Jungs.« Er hatte es für das patriotische Gefühl des Einwanderers gehalten, wog es nun aber gegen die blankgescheuerte Kindheit auf einem von Salzwasser umspülten Felsen auf. Sein Vater war von tiefem Erdreich verzaubert gewesen. Hätte Bauer werden sollen. Kam dem toten Mann zu spät auf die Spur.
Als hätte Billy Pretty ihn denken gehört, sagte er: »Von Rechts wegen hätte mein Vater Bauer werden sollen. Er war ein Heimkind auf dem Weg nach Ontario, als Knecht verdungen. «
»Heimkind?« Das sagte Quoyle nichts.
»Aus einem Heim. Teils ein Waisenhaus, teils eine Stätte, in die sie Kinder steckten, wenn die Eltern sie nicht ernähren konnten oder wenn sie auf der Straße herumstreunten. England und Schottland kehrten sie zu Tausenden zusammen und verschifften sie nach Kanada rüber. Mein Vater war der Sohn eines Londoner Druckers, aber die Familie war groß, und der Vater starb, als er erst elf war. Weil er der Sohn eines Druckers war, konnt’ er gut lesen und schreiben. Damals hieß er noch nich’ Pretty. Er wurde als William Ankle geboren. Seine Mutter hatte schon all die andern, verstehst du, darum steckte sie ihn in ein Heim. In ganz Britannien gab es damals Heime. Vielleicht sind sie immer noch da. Die Barnardo-Heime, das Sears-Heim, die staatlichen Kinderheime, das Fegan-Heim, das Sekretariat der Kirche von England, die Quarrier-Heime und viele mehr. Er war im Sears-Heim. Sie zeigten ihm Bilder von Jungen, die in einem sonnigen Garten große, rote Äpfel pflückten, sagten, das sei Kanada, ob er nicht da hinwolle? Er erzählte uns immer, wie saftig diese Äpfel aussahen. Ja, sagte er.
Also war er ein paar Tage später auf ’nem Schiff, der Aramania , auf dem Weg nach Kanada. Das war 1909. Sie gaben ihm ’ne kleine Blechtruhe mit ’n paar Kleidern, ’ne Bibel, ’ne Bürste und ’nen Kamm sowie ’n signiertes Foto von Reverend Sears. Von der Reise hat er uns oft erzählt. Auf dem Schiff waren dreihundertvierzehn Kinder, Jungen und Mädchen, alle zum Arbeiten auf Bauernhöfen bestimmt. Er sagte, viele von ihnen waren erst drei oder vier Jahre alt. Sie hatten keine Ahnung, wie ihnen geschah, wohin sie fuhren. Einfach kleine Waisen, die zu einem Feldsklavenleben geschippert wurden. Du mußt nämlich wissen, er blieb mit einigen der Überlebenden in Verbindung, mit denen er sich auf der Aramania angefreundet hatte.«
»Überlebenden von was?«
»Dem Schiffbruch, mein Junge, und wie er hierherkam. Auf dem Weg hier heraus haben wir von den Namen der Felsen geredet, wie du noch wissen wirst, aber es gibt noch andere Dinge auf See, die lebensgefährlich sind, und sie können keine Namen bekommen, weil sie sich bewegen, umhertreiben und verschwinden.« Er deutete auf die Eisberge am Horizont. »1909 gab’s ja noch keine Eispatrouillen, Radargeräte und Wetterfaxe. Der Weg durch die Eisberge war riskant. Und in der bitteren Junidämmerung rammte das Schiff meines Vaters, wie drei Jahre später die Titanic, einen Eisberg. Gleich da draußen, gleich vor der Guckinsel. Für Eisberge gibt’s keine Seekarte. Von den dreihundertvierzehn Kindern wurden nur vierundzwanzig gerettet. Die offizielle Zählung lautete dreiundzwanzig. Und sie wurden gerettet, weil der junge Joe
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