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Schiffsmeldungen

Titel: Schiffsmeldungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Sop – der später zu Skipper Joe wurde, Herr über einen der letzten Fischschoner auf den Bänken – zum Ausguck heraufkam, um die Kühe zu holen, und die Lichter sah und die Kinder schreien und weinen hörte, als sie ins eiskalte Wasser fielen.
    Er rannte zu den Häusern hinunter, brüllte, es gebe einen Schiffbruch. Jedes Boot am Ort wurde ausgebracht, da waren zum Beispiel zwei Witwen an den Rudern, die drei Kinder retteten, und sie holten raus, so viele sie konnten, aber für die meisten war es zu spät. In dem Wasser hältst du nur kurz durch. Da gefriert dir das Blut in den Adern, alles wird taub, und du stirbst in der Zeit, die wir brauchten, um zu dem alten Haus zurückzulaufen.
    Wochen später ankerte eine andere Schiffsladung Heimkinder auf dem Weg nach Kanada hier vor der Küste, und sie schickten ein kleines Boot herein, um die Überlebenden mitzunehmen, um sie an ihren ursprünglichen Bestimmungsort zu schicken. Aber mein Vater wollte nich’ gehen. Er hatte hier bei den Prettys eine Heimat gefunden, und sie versteckten ihn, sagten den Zuständigen, sie hätten sich bei den Geretteten verzählt – nur dreiundzwanzig. Der arme William Ankle war untergegangen. Und so änderte mein Vater seinen Namen in William Pretty und wuchs hier auf und führte ein freies Leben. Und wenn er nich’ glücklich war, dann wußte er ’s nicht.
    Wenn er mit den anderen weitergefahren wär’, hatt’ ihm wahrscheinlich ein elendes Leben geblüht. Wenn du mich fragst, dann wurde Kanada auf der Sklavenarbeit dieser armen Heimkinder aufgebaut, geschunden bis auf die Knochen, behandelt wie Dreck, halb verhungert und wahnsinnig vor Einsamkeit. Mein Vater blieb nämlich in Verbindung mit drei von den überlebenden Jungen, und sie schrieben sich gegenseitig. Ein paar von den Briefen hab’ ich noch – arme, erbarmungswürdige Jungen, die einen Schiffbruch und die eiskalte See überlebt hatten und allein und ohne Freunde weiterfuhren in ein hartes Leben.«
    Quoyles Augen feucht, in Gedanken sah er seine kleinen Töchter als Waisen, auf dem Weg über den kalten Kontinent zu einem wilden Bauern.
    »Wohlgemerkt, es war nie einfach bei den Prettys, nie leicht auf der Guckinsel, aber sie hatten die Kühe und ’n bißchen Heu und die Beeren, den Fisch und ihre Kartoffeläcker, und im Herbst kriegten sie von ’nem Händler drüben in Killick-Claw ihr Mehl und ihren Schinken, und wenn schwere Zeiten kamen, dann teilten sie, halfen sich unter Nachbarn. Nein, Geld hatten sie keins, die See war gefährlich, und Männer gingen verloren, aber auf ’ne Art, wie die Leute es heut’ nich’ mehr begreifen, war es ein befriedigendes Leben. Eine eingeschworene Lebensgemeinschaft, der Weg mal eben, mal steinig, aber gemeinsam. Die Arbeit und das Leben von jedem einzelnen waren ein und dasselbe, nich’ getrennt wie heute.
    Vater bekam immer diese mitleiderregenden Briefe, manchmal erst ’n halbes Jahr, nachdem sie geschrieben worden waren, und las sie hier laut vor, und den Leuten strömten die Tränen übers Gesicht. Oh, wie gern hätten sie diese harten Bauern in Ontario in die Finger gekriegt! Nicht einer von der Guckinsel hat für die Konföderation mit Kanada gestimmt! Mein Vater hätt’ am Konföderationstag ’ne schwarze Arm-binde getragen. Wenn er so lang gelebt hätt’.
    Einer von den Jungen, Lewis Thorn, bekam nie ein eigenes Bett, mußte im miefigen Stroh schlafen, hatte weder Schuhe noch Stiefel und wickelte seine Füße in Lumpen. Sie gaben ihm Kartoffelschalen und Brotkanten zum Essen, was sie sonst den Schweinen gegeben hätten. Sie schlugen ihn jeden Tag, bis er alle Farben eines dunklen Regenbogens hatte, Gelb und Rot und Grün und Blau und Schwarz. Er arbeitete von Sonnenaufgang bis -untergang, während die Bauerskinder Schule und Freizeit hatten. Sein Haar wuchs ihm bis auf den Rücken, ganz verfilzt und verzottelt. Er versuchte, es mit ’ner Handsichel zu stutzen. Du kannst dir vorstellen, wie das aussah. Er war dreckig und verlaust. Am schlimmsten war, wie sie sich über ihn lustig machten, ihn verhöhnten, weil er ein Heimkind war, ihn auslachten und ihm das Leben zur Hölle machten. Schließlich betrogen sie ihn um seinen geringen Lohn und trieben ihn in den Winter von Ontario hinaus, als er dreizehn war. Er ging zu ’nem andern Bauern, der noch schlimmer war. Nich’ ein einziges Mal während seiner Jahre auf den Bauernhöfen – und er schuftete dort, weil er nichts anderes konnte, bis er mit knapp zwanzig

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