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Schiffsmeldungen

Titel: Schiffsmeldungen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Annie Proulx
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Überladung war der Hauptgrund für Tausende von Schiffbrüchen jedes Jahr. Plimsoll flehte um eine auf alle Schiffe gemalte Ladelinie, flehte darum, daß kein Schiff, unter welchen Umständen auch immer, den Hafen verlassen durfte, wenn die Linie nicht deutlich sichtbar war. Er sprach seine Leser unmittelbar an: »Zweifeln Sie an diesen Behauptungen? Dann, um Himmels willen, oh, um Himmels willen, helfen Sie mir dabei, daß eine königliche Kommission ihren Wahrheitsgehalt überprüft!« Auf jedem Zentimeter seines Wegs wurde er von mächtigen Schiffahrtslobbys bekämpft.
     
    Als er aufhörte, brach der Abend wieder herein. Kochte sich zwei Pfund Krabben in Olivenöl und Knoblauch, sog das Fleisch aus den Schalen. Ging in der Dämmerung mit dem letzten Bier zum Steg hinunter, ertrug die Stechmücken, sah zu, wie die Lichter von Killick-Claw angingen. Die Leuchttürme auf den Landspitzen blinkten.
    Die alte Hexe kam in der Nacht, sattelte und zäumte Quoyle. Er träumte wieder, daß er auf der Alptraumautobahn sei. Eine winzige Gestalt unter einer Buckelbrücke streckte ihm flehentlich die Arme entgegen. Petal, zerfetzt und blutig. Doch er fuhr so schnell, daß er an ihr vorbeigetragen wurde. Die Bremsen funktionierten nicht. Er wachte für ein paar Minuten auf, den rechten Fuß auf der Traumbremse, sein Hals naß vor Angstschweiß. Der Wind ächzte durch die Haustrossen, ein Geräusch, das ein Gefühl von hoffnungsloser Verlassenheit hervorrief. Aber er zog sich die Ecke des Schlafsacks übers Ohr und schlief wieder ein. Gewöhnte sich allmählich an Alpträume.
    Bis Sonntag mittag war der Plimsoll-Artikel fertig, und Quoyle brauchte einen Spaziergang. War nie am Ende der Landzunge gewesen. Als er die Tür hinter sich zuzog, fiel ein Stück verknoteter Faden vom Riegel. Er hob es auf und steckte es in die Tasche. Dann die Küste entlang auf den Ausläufer der Landspitze zu.
    Kletterte über Felsen, so groß wie Häuser, rutschte an ihren Flanken in feuchte Räume mit Böden aus Seetang. Die Steine hielten verlorengegangene Netze fest, zu haarigen Fransen aus Muschelschalen und Seetang zerschlagen. Aus Tidenpfützen flogen Möwen auf. Der Fels war mit leeren Krabbenschalen übersät, noch naß von rostfarbenen Körperflüssigkeiten. Die Küstenlinie verengte sich zu einem Kliff. Auf diesem Weg konnte er nicht weitergehen.
    Also kehrte er um, kletterte zur Heide hinauf, die den Hang wie mit verschrumpelten Perücken bedeckte. Tiefausgewaschene Steine. Folgte Karibupfaden bis zur Granitzunge hinauf, die sich ins Meer erstreckte. Zu seiner Rechten der blaue Kreis der Omaloor Bay, auf seiner Linken die rauhe Küste, die sich meilenweit bis Misky Bay hinzog. Vor ihm der offene Atlantik.
    Seine Stiefel hallten auf den nackten Steinen wider. Stolperte über in Ritzen steckende Wacholderwurzeln, sah Quarz-adern wie geronnene Blitze. Der Hang war mit Rinnen und Erhebungen, Vorsprüngen und Plateaus übersät. Weit voraus sah er einen aufgeschichteten Steinhaufen; fragte sich, wer ihn gemacht hatte.
    Brauchte eine halbe Stunde, um zu diesem Turm zu gelangen und umschritt ihn. Dreimal so hoch wie ein Mann, die Steine von Flechten verkrustet. Vor langer Zeit errichtet. Vielleicht von den alten Beothuks, die jetzt ausgerottet waren, von Walfängern und Kabeljaufischern zum Spaß erschlagen. Vielleicht eine Markierung für baskische Fischer oder Wracker-Quoyles, die mit falschen Lichtsignalen Schiffe auf die Felsen lockten. Das grollende Brausen des Meeres zog ihn weiter.
    Schließlich das Ende der Welt, ein wilder Ort, der am Rand des Höllenschlunds zu balancieren schien. Kein menschliches Zeichen, nichts, kein Schiff, kein Flugzeug, kein Tier, kein Vogel, keine schaukelnde Fallenmarkierung, keine Boje. Als stünde er allein auf dem Planeten. Der ungeheuerliche Himmel dröhnte auf ihn ein, und instinktiv hob er die Hand, um ihn abzuwehren. Durchscheinende, zehn Meter hohe Brecher donnerten flaschenfarben auf Stein, trieben Blasen in einen mahlenden Milchsee mit Sahnehauben. Sogar dreißig Meter über dem Meer brannte der Salzdunst noch in den Augen und perlte in feinen Tröpfchen auf seinem Gesicht und seiner Jacke. Wellen brandeten mit dem hohlen Baß, der Öfen und Mäuselöchern eigen ist.
    Er fing an, sich den Felshang hinabzuarbeiten. Naß und glitschig. Er ging vorsichtig, von den Urgewalten erregt, fragte sich, wie es bei Sturm wäre. Und es war sogar Ebbe gemäß jenem komplexen Vorgang des An- und Abschwellens von

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