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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Musik, in der sie nichts wiedererkannten, menschliche Wesen, die sie häßlich fanden, ein Universum von ihrem eigenen Schönheitsideal entfernt, nackte, dunkle Gestalten in der endlosen Landschaft, die offenbar von Sand und Luft leben konnten, denn sie hielten keine Tiere, hatten keine Schrift und keine Maschinen, und sie bauten nichts an. Das Gleichgewicht, in dem sie mit und in der Natur gelebt hatten, war ein ökologisches System von hoher Intelligenz, aber keine begreifbare Kategorie für die Neuankömmlinge, die das Land und das Wasser auf zerstörerische Weise nutzen wollten, so wie es auf der anderen Seite des Globus bereits geschah. In der unbegreiflichen Welt, die sie hier vorfanden, hatte es immer genug zum Leben und Überleben gegeben, der Natur wurde nie Gewalt angetan, ein kompliziertes, sehr detailliertes Gewohnheitsrecht samt den dazugehörigen Tabus regelte die Zahl der Menschen in einem bestimmten Gebiet, bis die Weißen kamen und das uralte System der Bodennutzung und Wasserregulierung durchbrachen, weil sie Weideland für ihre Schafe und Kühe suchten.
    Ich weiß nicht, ob man so etwas als Mißverständnis bezeichnen darf. Schuldhaftes oder schuldloses Unverständnis, wobei der Schwächere
     verliert. Widerstand, und den gab es natürlich, wurde geahndet. Tod auf beiden Seiten, Gefangenschaft, Zwangsarbeit auf See, die Zerstörung einer Kultur
     mit noch immer sichtbaren Folgen.
     
    Broome, dieser nahezu unsichtbare Fleck im Nordwesten der riesengroßen Insel namens Australien, entwickelte sich zu einer Boomtown. Einige wurden reich, andere nicht. Vermögen wurden erworben und verschleudert. Vielerlei war damit verbunden, eine neue örtliche Elite, eine Hierarchie in Verwaltung und Handel, Namen wie Male und Streeters, die ich auf vergilbten Fotos von 1908 gesehen habe, die aber nach über hundert Jahren noch immer Gültigkeit besitzen und an den Holzfassaden der Bank oder von Eisenwarengeschäften zu sehen sind. Pittoreske Gestalten, Männer, die wie ich an der Bar des nach wie vor existierenden Roebuck Hotels gesessen haben, Geschichten von Bordellen in Chinatown, von Aufstieg und Untergang, Reputationen, die ein Jahrhundert später noch im kleinen historischen Museum nachsummen und auf dem Hügel des Pionierfriedhofs nahe der Town Beach, mit Gitterzäunen eingefaßte Gräber, die über den Ozean blicken. Richard Peter Bisley, pearl diver, lost in Roebuck Bay nov. 21, 1993, gone but not forgotten . Wie lange bleibt so etwas gültig? Captain Harry Talboys. Sea Captain and Master Pearler, Great Grandfather of Roy, Stan, Ron and Alan Brown, 1880 / 1932 . Er muß alles miterlebt haben, noch zu seiner Zeit wohnten in Broome mehr Asiaten als Weiße, die Aborigines waren zum Teil von der Bildfläche verschwunden, hatten sich zurückgezogen in ihre ferne Welt. Sie haben keinen eigenen Friedhof in Broome wie die Muslime, die Japaner und die Chinesen.
    An einem flirrend heißen Tag gehe ich die Toten besuchen, sie liegen alle beieinander auf ihren eigenen Friedhöfen, die malaiischen Muslime, die Chinesen und die Japaner, das Totenreich als Ausland im Ausland. Die Zeichen auf den Gräbern stehen für Menschen, deren Namen ich nie erfahren werde, weil die Zeichen, die dazu bestimmt sind, sie zu benennen, mir gerade den Zugang versperren. Ich weiß, daß sie Laute darstellen und daß diese Laute einen Menschen hatten rufen können, als diesernoch lebte, doch das ist vorbei. Zwischen 1909 und 1917 starben hier 145 Taucher, meist an einer Lähmung, die the bends genannt wird. Es war ein anderer Tod als der der früheren skindivers , die ohne Helm tauchten. Jetzt konnte man länger unter Wasser bleiben und tiefer hinuntergehen. Doch wer zu tief taucht und zu schnell wieder nach oben kommt, befindet sich in Lebensgefahr. Die Dekompression wirkt sich tödlich aus. Luft besteht nun mal aus Sauerstoff, Stickstoff und anderen Gasen, und wenn der Taucher unten ist und atmet, gelangt der Stickstoff als Flüssigkeit in sein Blut, steigt er jedoch zu schnell auf, bilden sich Blasen und möglicherweise auch Schaum, was zum Tode oder, falls er ins Gehirn gelangt, zu Lähmungen führen kann, the bends .
    Friedhof in Broome
    Der Boden ist trocken, voller kleiner Steine, orangerötlich. Die See hat die Toten an eine Erde aus orangefarbenem Staub zurückgegeben. Geschmetter von tropischen Vögeln, Geraschel von Eukalypten, Gespensterbäumen mit sich ablösender weißer Rinde, dann wieder Stille, meine Schritte im Staub.

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