Schiffstagebuch
Vertrocknete Kränze, manchmal ein Foto mit einem asiatischen Gesicht, meistens nichts. Kurze Leben. Die chinesischen Toten liegen nach Osten ausgerichtet, die Muslime zwischen den Chinesen und Japanern, als müßten sie sie voneinander trennen. Knapp tausend japanische Tote, das erste Grab ist das von Tanako Koto, als Taucher 1893 ertrunken. Die See hat die meisten Opfer gefordert, des Zyklons von 1908 und jenes von 1935 wird hier noch immer gedacht, wie auch des japanischen Angriffs vom März 1942. Als Australien nach Pearl Harbor Japan gemeinsam mit Amerika den Krieg erklärte, lebten mehr Japaner als weiße Australier in Broome. Bis dahin war ihr Zusammenleben harmonisch verlaufen. Jetztsollten die Japaner, die schon seit Generationen einen Teil der Bevölkerung ausmachten, plötzlich interniert werden. Sie wehrten sich dagegen in keiner Weise, und die Hausfrauen von Broome trugen nach Kräften dazu bei, ihnen die erzwungene Abreise zu erleichtern. Es gab keine Feindschaft, dafür hatten sie zu lange zusammengelebt.
Irgendwo im kleinen Stadtzentrum steht das Denkmal dreier Perlenkönige, Männer, die die Perlenindustrie gerettet haben. Sie heißen Kuribayashi, Iwaki und Dureau und stehen in Bronze jemandem gegenüber, der keinen Namen hat, nur einen Gattungsnamen, der Hard Hat Pearl Diver , der behelmte Perlentaucher. Das klingt wie eine seltene Vogelart, aber auch ein wenig wie der unbekannte Soldat, denn im Laufe der Zeit sind Hunderte dieser Männer gestorben. Für die Aborigine-Zwangsarbeiter, denn das waren sie, die beim Tauchen zu Tode kamen, wurde von der Aborigine-Gemeinschaft eine Gedenkplatte niedergelegt.
In den Büchern und im historischen Museum sehe ich mir die Fotos an, folge dem heritage trail , der sich weigert, sich Erbpfad nennen zu lassen, weil es dann etwas anderes bedeutet. Von solchen Orten und ihrer bewahrten Geschichte geht, ich weiß kein besseres Wort, eine Verzauberung aus. Die Isolation hat sie heil gelassen, ein kleiner, vielschichtiger, aber doch übersichtlicher Kosmos von Namen, Daten, Dramen und Erinnerungen. Der Außenstehende geht durch alles hindurch wie durch die Metapher einer größeren Welt und hat genug, worüber er nachdenken kann zwischen den niedrigen tropischen Häusern, den tropischen Bäumen mit ihren weit ausladenden Kronen, die die Sonne abhalten. Man würde gern bleiben, sich das gleiche Tempo aneignen, Bewohner werden, den Restder Welt hinter der Wüste und dem Ozean langsam vergessen. Kinderträume und auch Widerspruch, denn die Karte lockt.
Als ich das letzte Mal hier war, hatte ich nach Fitzroy Crossing fahren wollen, was aber nicht möglich war, da die Straße überflutet war. Jetzt geht es, und obgleich ich weiß, daß es eigentlich ein sinnloses Exerzitium ist, daß ich die Straße sogar mit meinem allradgetriebenen Mitsubishi nirgendwo verlassen darf, will ich doch in die Leere der Karte hineinfahren, zumindest bis zum großen Fluß, auch wenn mir bewußt ist, daß ich danach höchstens noch bis Hall‘s Creek, Kununurra und Darwin fahren kann, weil ich auf der anderen Seite des Kontinents bei einem Festival erwartet werde. Vielleicht ist es ja nur der Name, Fitzroy Crossing, der mich auf die Straße treibt, immer waren es Namen, die mich irgendwohin gelockt haben. Der große, aber unbekannte ungarische Essayist und Philosoph Béla Hamvas schreibt in seinem Essay Kierkegaard in Sizilien : »Das erste Erlebnis einer Reise ist die rätselhafte Ausdehnung der Möglichkeiten nicht nur in die Richtung, in die man reist, sondern in alle Richtungen, und es bedarf besonderer Geistesgegenwart, um in der plötzlich um ein Vielfaches angewachsenen Welt nicht seine Sicherheit zu verlieren.« Alle Richtungen, genau darin besteht die Verlockung und das Problem des freien Reisenden. Er braucht nur auf die Karte zu schauen. Da sind sie wieder, die Namen, über die ich zu Beginn sprach. Das Roebuck Plains Roadhouse liegt an der Kreuzung des Great Northern Highway. Die 34 Kilometer nach Broome hat man dann hinter sich. Jetzt kann man wählen: nach Süden, nach Nordosten. Ich will beides, und mit diesem ewigen Riß in meinem Körper fahre ich zuerst nach Süden.Zur Rechten weiß ich den von hier nicht sichtbaren Ozean, links die gleiche Endlosigkeit, nun aus Sand. Wenn hier noch Namen stehen, sind sie für mich unerreichbar, denn es führen keine Straßen dorthin. Auf der sonst leeren Karte gibt es nur eine rote gepunktete Linie, allerdings mit dem Zusatz no access .
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