Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
Trotzdem hat diese Straße einen Namen und eine Zahl, Dampier Downs Road 52 . Auch Dampier, Seeräuber, Botaniker, Kartenmacher, ist in dieser Gegend gewesen, aber er hatte kein Glück. Der Zufall meines eigenartigen Lebens brachte ihn mit dem Dichter Thomas Eliot in der kleinen Kirche von East Stoker in Verbindung, in der beide ihr Denkmal haben. Ich suchte nach dem Grab des einen und fand den anderen, dem ich hier nun wiederbegegne. Ich halte an und schaue die harte Sandspur entlang, die ich nicht befahren darf. Die Autovermietung hat für die Übertretung des Verbots so ungefähr die Todesstrafe verhängt, wegen der Risiken. Darf ich denn nicht wenigstens ein kleines Stück hinein? Na gut, Quengler, aber nur ein ganz kleines. Wüstenartiger Boden links und rechts. Ich weiß, daß sich das für Stunden nicht ändern wird, und steige aus. Ein kleines murmeltierartiges, rattenähnliches Wesen mit einem Schwanz wie ein Pinsel beobachtet mich. Ich schaue zurück, und sein Blick sagt, was ich bereits weiß: Ich befinde mich auf seinem Territorium. Alles gehört ihm, Mulga und Spinifex, der Wind und der Himmel und die Schlange, die sein Feind ist. Doch obgleich ich von Eliots Wüstem Land umgeben bin, sind es nicht seine Worte, die mir durch den Kopf gehen, sondern die des unbekannten Ungarn, eines der tragischen Opfer des zwanzigsten Jahrhunderts, der sich seinen Unterhalt als Hilfsarbeiter verdienen mußte, nicht veröffentlichen durfte, aber trotzdem an einem umfangreichenund faszinierenden Œuvre schrieb, das erst nach und nach entdeckt wird. Er schreibt Sätze über das Reisen, die einen Reisenden nicht mehr loslassen. »Zu Hause lernst du die Welt kennen, auf Reisen dich selbst; denn zu Hause lastet das Gewicht auf dir, unterwegs auf der Welt, und stets bleibt das unbekannt, was du gerade betrachtest.« Es sind Paradoxa, aber ich erkenne sie wieder, und mit einemmal muß ich einmal mehr an eine meiner ersten Reisen per Anhalter denken. Ein Mann in einem englischen Sportwagen, in dem alles nach Leder roch. Auf der schmalen Rückbank das Buch von Papini. Er fragte, wohin ich wolle, und ich antwortete, das wüßte ich nicht. Darauf sagte er etwas, was ich in dem Moment nicht verstand: »Du wirst immer auf dem Stuhl eines anderen sitzen.« Was er damit meinte, war, daß Menschen zu Hause bleiben sollten. Ich habe mich nicht danach gerichtet, aber vergessen habe ich es auch nie.
    Während ich hier stehe und der Stille lausche und in die Leere der Landschaft starre, bin ich mir, wie so häufig, zweier Lügen bewußt. Die Landschaft ist leer, aber nicht leer, die Stille ist still, aber nicht still. Mein knopfäugiger Freund ist lautlos verschwunden, ich bin allein. Überall muß verborgenes Leben sein, aber es bewegt sich nichts. So weit ich auch schaue, ich sehe keine Bäume, keine Hügel, keine Vögel. Das nennen wir leer. Niedriges, leicht ausgedörrtes Gras, das man blond nennen kann oder strandhaferartig und das in allen möglichen botanischen Handbüchern einen lateinischen Namen hat, in der Sprache der Aborigines jedoch einen anderen. Und als ich, weil ich ganz still stehenbleibe, genauer hinschaue, sehe ich auch anderes Gras, etwas mit einem kümmerlichen braunen Kügelchen an der Spitze, und ein Stück weiter einstrunkartiges Stück Holz mit einem Schimmelpilz. Auch diese beiden haben Namen. Es kommt kein Auto vorbei, dafür ein Windstoß: Der Komponist ohne Namen hat etwas notiert, etwas rauscht oder seufzt, saust oder bläst, ich höre es. Und dieses andere, dieses leichte Ticken oder Knacken? Ist doch noch jemand hier? Sucht da jemand, der noch kleiner ist als eine Hand oder ein Fingernagel, seinen Weg, verborgen in seiner vor tausend Jahren entworfenen Tarnfarbe, weswegen ich ihn nicht sehe? Was wollen sie mir sagen, was wollen sie mir vor Augen führen?
    Stets bleibt das unbekannt, was du gerade betrachtest . Ich weiß, wo ich bin, und ich weiß, wie das hier heißt, aber hilft das? Wenn ich, das Verbot mißachtend, Dampier Downs Road weiter entlangfahren würde, käme ich wahrscheinlich vor Durst um. Mir ist bewußt, daß die Verlockung des Weiterfahrens oder -gehens für andere schwer vorstellbar sein mag. Bei mir bestand sie schon immer. Eine Kurve in der Straße, dann muß man wenigstens bis zu dieser Biegung gehen, um zu sehen, was sich dahinter befindet. Aber ein Stück weiter kommt noch eine Kurve. Und dann ein steiler Abhang, wo der Weg mit den losen, kantigen Steinen wieder um die Ecke biegt.

Weitere Kostenlose Bücher