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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Rolling Stones . Und wo führt der hin? Wann kommt der Punkt, an dem man sich mit einem Gefühl tiefer Enttäuschung im Dunklen umdreht? Die Straße weicht ständig vor einem zurück, etwas ist nicht getan, nicht gesehen worden. »Man müßte so reisen«, schreibt Hamvas, »wie das Feuer sich ausbreitet, von einem Mittelpunkt aus in alle Richtungen, und wie das Feuer alles verzehren, was man durchreist hat – damit man am Ende des Weges nichts als Asche und Ruinen zurückläßt. Statt dessen verglüht man selbst, und die Welt blüht weiter.« Ob das wahr ist oder nicht, eine mystischeErmunterung, ein unlösbares koan , in dem Augenblick, in dem ich dort stehe, ist es gültig, ich brauche nichts in Brand zu stecken, diese tropische Landschaft brennt von selbst, und es ist, als dürfe man mit ihr brennen, es macht Geräusche, es läßt einen in eine Ferne blicken, die einen zu sich heransaugt, so daß man das eine Unbekannte gegen das andere tauscht, sich selbst und das Auto umdreht und über die Fahrspur zum Highway zurückrumpelt und von dort zum Ozean, sandige, fast unbefahrbare Straßen, blutrot, auf denen der kleine Mitsubishi wie ein Kinderwagen hin und her tanzt und so tut, als würde er gleich umkippen, bis wir zum Ozean kommen und zwischen den Mangroven im schlammigen Wasser nicht die Krokodile sehen, die manchmal hervorschießen, um Poseidon den sorglosen Hund eines Spaziergängers zu opfern. Kein Witz. Ein Schild macht in Gestalt eines Dreiecks mit Ausrufezeichen darauf aufmerksam: Crocodile Safety – Danger! Darunter ein Krokodilkopf mit weit aufgerissenem Maul. Und als wäre das noch nicht genug, hatte ich das Foto der jungen, vor Gesundheit strotzenden Ginger Meadows vor Augen, die direkt vor ihren Freundinnen von einem Krokodil unter Wasser gezogen wurde und nicht mehr auftauchte. Sie lacht auf diesem Foto, sitzt auf dem Achterdeck eines kleinen Boots, weiße Nikes, weiße Socken, die langen braunen Beine gekreuzt, das Wasser hinter ihr glänzend, die australische Fahne darüber auf einmal viel zu rot.
    Schroffe, vielfarbene Felsen stehen hier, bizarr geschliffene Riesen mit Dolchen und Schwertern. Es ist Niedrigwasser, der Strand flach, niedrige Bäume, vom Wind oder der Brandung landeinwärts gedrückt, wie in Schlachtordnung stehen sie bis zu den Knien im Wasser. Die Natur brauchte nie jemanden, war immer selbst Bildhauerin, Surrealistin, Lieferantin von Pathos und Unheil, Stoff für die merkwürdigsten Träume, Formen, die bei Nacht wiederkehren werden, wenn der tropische Sturm an den plötzlich so verwundbaren Holzwänden des Motels rüttelt und die Erinnerungen an die zerstörerischen Zyklonevon damals und dann wachruft, die schlimmer waren als irgendein japanischer Angriff.

    Roebuck Bay. Felsformationen und Mangrovenwälder
    Der nächste Morgen, sehr früh. Jetzt aber wirklich nach Fitzroy Crossing, so tun, als würde ich weiterfahren, vielleicht sogar bis nach Darwin. Ich weiß, daß es so nicht ist, doch das Gefühl ist da. Eintönig, im wahrsten Sinne des Wortes: alles in einem Ton, dem eines Motors, der die Geschwindigkeit hält, weil schneller oder langsamer keinen Sinn hat. Hier ist alles lang. Dann und wann ein roadtrain , ein riesiger Truck mit bis zu drei gigantischen Anhängern. Einen Moment lang sieht man die mächtige Gestalt hinter dem großen Lenkrad und muß sein eigenes fester fassen, um dem Luftdruck standzuhalten. Häuser: keine, Radfahrer: keine, Autos: wenige, kein einziger Fußgänger. Einmal ein Pick-up mit einer Gruppe zerzauster Aborigines. Um in ihr Gebiet zu fahren, braucht man eine Genehmigung, man muß sich schriftlich anmelden, diesmal wird es nicht klappen, ich fahre nur nach Fitzroy Crossing.
    Um die Tiefe dieses Landes zu ermessen, muß man in das Unsichtbare hinein. Vielleicht ist es das, was der Mann in dem Sportwagen gemeint hatte, nicht nur, daß man letztlich immer an der Oberfläche bleibt, sondern daß es Orte gibt, an denen die Vergangenheit derart mit dem gesättigt ist, was zerstört wurde und trotzdem geblieben ist, daß das Gebliebene so sehr von Mythen und Tabus umgeben ist, daß man deren Wirklichkeit allen gutgemeinten Übersetzungs- und Erklärungsversuchen zum Trotz nie mehr wird ermitteln können. Eine kodierte Kunst voller Geheimnisse, die nicht mit dem übereinstimmt, was an der Oberfläche dieser Gesellschaft sichtbar ist – im Grunde so etwas wie ein sakraler Grundton, der sich in eineWelt ohne Geheimnisse verirrt hat. Auf der Karte ist

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