Schiffstagebuch
Fünf Millionen Einwohner, sagt er, aber es könnten auch mehr sein. Die Menschen, die an den Rändern der stetig wachsenden Stadt Land besetzen und demzufolge keine Strom- und Wasserversorgung haben, werden nicht mitgezählt. Die Pattsituation im Parlament dauert an, wie ich auf den Fernsehschirmen sehe, als ich das Hotel betrete. Drei Tage schon kampieren die Abgeordneten auf der heiligen Tribüne. Jetzt hat das Land drei Präsidenten. Fox, Calderón und López Obrador. Der erste muß bleiben, bis der zweite in sein Amt eingeführt ist, und der dritte sagt, nicht der zweite, sondern er selbst sei der rechtmäßige Nachfolger, da der Wahlsieger Betrug begangen habe.
Nächster Tag. Die Fahrt ins Zentrum dauert fast eine Stunde. Die Stadt ist so groß, daß ich nicht weiß, wo ich anfangen soll. In der Dritten Welt taucht man immer in eine andere Zeit ein. Das stimmt so natürlich nicht, es ist die eigene Zeit, nur laufen die beiden nicht synchron. Was ich als erstes sehe: Auf einem Bürgersteig in der Nähe des Gerichtsgebäudes sitzen echte Schreiber, keine Schriftsteller, sondern solche, die von anderen gebraucht werden,um für sie zu schreiben. Es hat ein wenig Ähnlichkeit mit Beichten. Der Schreiber sitzt hinter seiner Maschine unter dem Säulengang, vor ihm der Beichtende mit seiner Geschichte. Er selbst kann nicht schreiben, das muß der andere für ihn tun, der hat das gelernt. Die Selbstverständlichkeit ist dahin, es gibt zwar Worte, aber keine Schrift. Ich weiß nicht, warum diese Szene mich so rührt. Worum geht es? Ein Plädoyer, ein Gesuch, einen Liebesbrief? Man muß einem anderen schon sehr vertrauen, wenn man bereit ist, sich so auszuliefern. Und der andere? Der könnte natürlich ein Buch über all das schreiben, was er so hört, doch das tut er nicht, er ist auch so schon Schreibender genug.
Die Kathedrale. Mächtig, barock. Überragt alles, der Moloch, der hier alle früheren Götter verdrängt hat. Drinnen ist es kühl. Ein Mann umklammert die Knöchel eines barfüßigen Heiligen und bittet ihn um etwas, weltverloren, ein Mann, der zu einer Statue spricht. Wie immer ist mein Blick durch kürzlich Gelesenes verformt. In The History of Love von Nicole Krauss gibt es eine Passage über Hände, über die Vielzahl möglicher Bewegungen, die man mit den feinen Knochen von Fingern und Händen ausführen kann. Auf einmal sehe ich die Heiligenfiguren um mich herum mit anderen Augen. Christus am Kreuz hat die Hände nicht frei, aber auch so drücken sie immensen Schmerz aus; Franziskus faltet sie, andere Figuren segnen, legen dar, fragen, das große Theater menschlicher Gebärden. Nur bei den Buddhisten findet man das sonst noch, Muslime und Protestanten haben die Darstellung von Menschen abgeschafft und damit die Distanz zum menschlichen Maß vergrößert. Ein alter Mann fegtden ohnehin schon so sauberen Boden um den Altar, bis er eine glänzende Eisfläche ist, ich starre auf die uralten Geschichten in der Sprache des spanischen neunzehnten Jahrhunderts mit ihrer Grammatik aus Gips und süßlichen Farben und höre durch die offenen Türen das schwere Dröhnen der Stadtbusse, auf deren Konto die Hälfte des erstickenden Smogs geht.
Gemüse, Gräser, Kräuter, Früchte, Düfte und Farben in tropischer Üppigkeit, bleiche Käselaibe, so groß wie Wagenräder. Der Markt,
Zentrum des Alltagslebens. Eines wird man hier nicht finden: die Scheinheiligkeit der Leugnung, die im entwickelten Norden inzwischen allgemein verbreitet
ist. Bei uns hat ein Tier vielleicht gerade noch eine Leber, doch schon lange keinen Magen, keine Eingeweide, kein Euter, keinen Kopf mehr. Man sieht es
den nördlichen Reisenden, Amerikanern, Europäern an. Wie sie beim Anblick des Innenlebens von Bruder Bock oder Schwester Kuh zurückschaudern, eine Angst,
die im Grunde die Angst vor dem Tod ist. Wir haben uns der Wirklichkeit dessen, was wir essen, entfremdet, nichts darf mehr zu erkennen sein. Da liegen
sie, verschüchtert und verwaist, aber in großer Schönheit, die rosa Kuhfüße mit ihren gespaltenen Hufen, die langen Girlanden glänzender Därme und die
geometrischen Waben der Magenwände, die dahängen wie frischgewaschener Molton. Die Preisliste läßt keinen Zweifel offen, weder hinsichtlich der
Günstigkeit noch in bezug auf die Ware selbst, Kopf, Euter, Maul, Zunge, Lippe, cabeza 3,50 pesos, tripa/ubre 4,50, labio, trompa 4,50, lengua
6,00 , und im Vergleich dazu das Beefsteak für lediglich
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