Schiffstagebuch
alles unermeßlich, ein halbes Leben würde nicht ausreichen. Alles, was ich tue, ist, einen Kratzer darauf zu hinterlassen, nie habe ich etwas anderes getan. Wenn man lange genug weiterfährt, ist es nicht mehr das Auto, das sich bewegt, sondern die Straße, ein schwarzes Band, das nach Teer riecht und unaufhörlich unter einem weiterläuft.
Nach Stunden das Willare Bridge Roadhouse. Drei grüne Tanksäulen, ein kleiner Supermarkt. Man kann hier essen, man kann hier auch schlafen. Ich gehe
außen am Haus entlang Richtung Toiletten. Viereckige Kästen von Klimageräten, Fenster, zugeklebt mit Pappe, Schädel mit gekrümmten Hörnern, schwarze
Augenhöhlen aus gebleichten Knochen, Türen mit metallartiger Gaze gegen die Insekten. Die Verlockung, zu bleiben, zu sehen, wie die Zeit verrinnt und wie
man selbst verrinnt und aufhört zu zählen. Doch ich muß nach Fitzroy Crossing und den Fluß überqueren, und wenn ich dort angekommen bin, werde ich
umkehren und gegen die Zeit zurückfahren, jeden einzelnen Meter, der dann anders aussehen wird. Und dann habe ich die Erinnerung bei mir von Sandbänken im
dunklen Wasser, dem Schatten von Eukalyptusbäumen mit ihrer abschilfernden Haut, der Brücke auf hohen, breitbeinigen Holzpfählen, einem niedrigen Gebäude
mit primitiven Bildern von schwarzen Menschen auf Pferden, einer Galerie mit Aborigines-Kunst, die irgendwann öffnen wird, jetzt aber noch nicht, einem
dunklen Laden mit allem möglichen im Schein des Neonlichts, Jeeps, die mit Menschen angefahren kommen, die Ferne und Isolation in ihren Gesichtern haben
und einen zu dem Fremdling verurteilen, der man bleiben muß, der zurück muß in seine eigene Welt mit dem Gefühl, vor etwas zurückgeschreckt zu sein, das mächtiger ist als er selbst, eine Unmöglichkeit, die er herausgefordert hat, die sich aber zum sovielten Mal wieder als stärker erwiesen hat, Sehnsucht nach einer ewigen Bewegung ohne Ankunft und Aufbruch.
Willare Bridge Roadhouse
Auf der Karte geht der Great Northern Highway weiter.Der nächste Ort heißt Gilaroong, dann kommt Eight Mile gegenüber der Donald Plain, im Weiß der Karte lese ich Ngalingkadji, Christmas Creek, Ngumpan Cliff, jeder Name eine ausgeschlagene Einladung, hinter dem Horizont zu verschwinden. Morgen werde ich darüber hinwegfliegen zur anderen Seite des Kontinents. Dann ist alles unter mir Wüste mit den Farben der Wüste, es wird aussehen wie Sand und Kalk, und alles wird einen Namen haben, der nach Rückkehr ruft, bis es keine Rückkehr mehr gibt.
Was ich mitnehme, ist der Gedanke an den 3. März 1942, an hilflose Dorniers, durchlöchert im Wasser, das Grab eines Kindes im Sand, an Aborigines-Frauen, die sich Tabak kaufen konnten für glitzernde Steine, an Iwan Smirnow, der seine angeschossene DC-3 in die Brandung steuerte, so daß das Feuer im Triebwerk gelöscht wurde, an Perlentaucher und Strandräuber sowie die Geschichte und das Schicksal von Menschen in einem fernen tropischen Winkel am anderen Ende der Welt, wo die Straßen breit sind und die Häuser niedrig unter mächtigen Bäumen, die ihren Schatten weit ausbreiten über alles, was sich darunter bewegt.
4
Mexikanische Fragmente
Guadalajara
Am Vorabend meiner Reise Bilder aus dem mexikanischen Parlament. Raufende Abgeordnete, ungestümes Temperament, Fausthiebe, Straßenschläger mit Krawatte. Die Opposition hält die Tribüne besetzt, auf der laut Verfassung der neue Präsident in sein Amt eingeführt werden soll. Die Partei des neuen Präsidenten will verhindern, daß diese Zeremonie verhindert wird. Mexiko hat eine bewegte Geschichte, ein Abenteuer mit zwei Präsidenten hat darin auch noch Platz. Ich freue mich auf morgen. Es bleibt während des gesamten elfstündigen Flugs hell, die ganze Welt unter einer Wolkendecke, der Ozean, Grönland, Neufundland, Kansas, Chihuahua, überall Wolken in Formation, graue Geschwader, langsam vorrückende Volksarmeen, zuweilen auch phantastische, groteske Einzelkämpfer, die über der Masse dahinziehen, Wolken, mit denen ich gern mal reden würde.
Am Tag darauf ist es für mich noch immer gestern. In Guadalajara ist es Abend, für mich tiefe Nacht. Mein anfitrión , wie man hier sagt, steht mit dem Wagen der FIL bereit, der Feria Internacional de Libros, des großen Bücherfests. Er ist Professor an der Universität Guadalajara und bringt mich in mein Hotel. Subtropische Dunkelheit, endlose Straßen. Ich habe nicht gewußt, daß Guadalajara so groß ist.
Weitere Kostenlose Bücher