Schiffstagebuch
5 pesos . Nichts von alldem wird man noch in einem amerikanischen Supermarkt
finden. Dort sah ich Leber, Nieren, Herz und Lammhackfleisch in der Abteilung für Katze und Hund. Wir haben dafür nur noch marokkanische Schlachter. Auf Märkten ist auch heute noch viel zu lernen.
Guadalajara, Markt, rosa Kuhfüße
Noch immer in Guadalajara. Manchmal, wenn ich die Augen vor den so anderen Bäumen und die Ohren vor dem so anderen Spanisch der Leute
um mich herum schließe, wähne ich mich in Spanien. Ich gehe über den offenen Tapatía-Platz zum streng neoklassizistischen Bau des Hospicio Cabañas. Autos
dürfen hier nicht fahren, dafür spielen Kinder in Kreisen, Reihen von bronzenen Fröschen spritzen Wasserbögen in die schwüle Luft. Ein moderner Künstler
hat eine goldfarbene Königsgestalt entworfen, auf deren Schoß man sitzen und aufs Hospicio blicken kann. Streng ist es, das stimmt, aber auch wohltuend
durch die Reinheit der Linien, den Anblick von Klarheit im Chaos der Stadt, einer Klarheit, die sich innen fortsetzt. Mit seiner gigantischen Kuppel und
den dreiundzwanzig Innenhöfen ist dies das größte Kolonialgebäude ganz Lateinamerikas, 1805 von Bischof Juan Cruz Ruiz de Cabañas als Waisenhaus gegründet und von Manuel Tolsá erbaut. Wie muß sich der Maler José Clemente Orozco gefühlt haben, als ihm 1937 das gesamte Innere der früheren Kapelle für seine Fresken zur Verfügung gestellt wurde? Es ist das rhetorische Zeugnis eines Künstlers mit einem Anliegen: Terror, Kolonisierung, Gewalt, die dramatischeGeschichte seines Landes schreit in Schwarz, Bleigrau und Rot von den Wänden, es läßt einen nicht unberührt. In der hohen Kuppel brennt El hombre de fuego , der Flammenmann, umringt von drei riesigen grauen Männergestalten, die um den Mann im Feuer kreisen wie in einem Sternbild. Siebenundzwanzig Meter über einem lodert diese Darstellung, man möchte sich fast auf den Boden legen, um alles besser zu sehen. An den Seitenwänden Philipp II., der sich an ein Kreuz klammert, Bilder von Eroberung, Fremdherrschaft und Diktatur, von Folter und Stacheldraht, den »Phantasmen der Religion im Bund mit dem Militarismus«, dem »Karneval der Ideologien«, dieser Maler wußte, was er sagen wollte, und zu wem.
Guadalajara, Hospicio Cabañas,
Wandgemälde von José Clemente Orozco
Draußen, auf den Innenhöfen, herrscht plötzlich eine unirdische Ruhe, Symmetrie ohne irgendeine andere ideologische Botschaft als sich selbst, Säulenreihen, beschwingte neoklassizistische Bögen wie ein Andante von Mozart, rechteckige Wasserbecken, in denen sich der azurblaue Himmel ohne die geringste Kräuselung spiegelt. Die Großstadt summt in der Ferne, die Geschichte hat Ferien.
Auf gut Glück einen Bus genommen. Manchmal erinnert mich die Architektur an Los Angeles, aber natürlich verhält es sich andersherum: Der Süden ist in den Norden vorgedrungen. Mit den Menschen geht auch die Sprache und die Architektur. Die Grenze ist porös, das nördliche Nachbarland eine Festung, die nicht zu verteidigen ist, die langsame Osmose der schleichenden Völkerwanderung ist dort genausowenig aufzuhalten wie in Europa. Und als müßte dafür der Beweis erbracht werden, komme ich etwas später an diesem Tag am amerikanischen Konsulatvorbei. Eine lange Schlange Wartender vor den hohen Gittern. Draußen hängen riesige Schilder mit Listen all dessen, was man nicht mit ins Gebäude nehmen darf, wenn man einen Visumantrag stellen will. Die Liste riecht nach Angst, sie führt fünfzig Gegenstände auf: Handys, Regenschirme, Feuerzeuge, Medikamente, Parfüm, Spielzeug, Zigaretten, Streichhölzer, Kameras ... Die Verteidigung einer Supermacht gegen Spazierstöcke, Krücken und Feuerzeuge.
Wer etwas über die Lebenden wissen will, muß die Toten aufsuchen. Friedhöfe sind immer Romane, dieser freilich, Belén (Bethlehem), ist ein Roman aus den letzten beiden Jahrhunderten und eigentlich selbst am offensichtlichsten tot. Anscheinend wird hier schon seit Jahren niemand mehr beerdigt. Am Eingang steht eine fröhliche Puppe mit grinsendem Totenkopf, in den Armen eine schwarzgekleidete elegante Frau, als würden sie tanzen gehen. Mexikaner haben ein seltsames Verhältnis zu Freund Hein, sie haben ihn (im Spanischen ist der Tod allerdings eine Frau, la calavera , was dem Tanzpaar etwas Eigenartiges gibt) tief in ihr Leben eindringen lassen, er hat zwar eine Sense, ist aber doch ein fröhlicher Typ, vor dem man keine Angst zu
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