Schiffstagebuch
haben braucht. Alles hier ist ein Dorado für Ruinenliebhaber. Abgesackte Grabmale mit verblichenen Namen, manche Grabplatten schamlos offen, Sandboden unter den Eukalyptusbäumen, wer hier liegt, ist doppelt tot. Kleine Tauben fliegen umher, Kinder spielen zwischen den windschiefen Gräbern, eine schneeweiße Katze putzt sich auf einem bemoosten Sarkophag, ich lese Bruchstücke von Namen und vergangenen Titeln, Beschwörungen des Jenseits, halb ausgelöschte Jahreszahlen, als wollte jemandbeweisen, daß an diesem Ort die Zeit nicht mehr gilt. Ich kann nichts dafür, ich finde es hier behaglich, zwischen all diesen Ruinen herrscht die unweltliche Ruhe eines Traums ohne Ende.
Die große Buchmesse wird abgebaut. Manchmal ist Abbau die beste Methode, etwas zu sehen. Ein Bücherfest in einem Land, in dem viele nicht lesen können. Die Menge will noch nicht weg, auch ich nicht. Menschen liegen auf orangefarbenen Kissen und lesen, oder schlafen, ein Buch in den Armen, ermüdet von so viel Angebot. Für Kinder gibt es eigene Räume, wo sie schreiben, lesen, zeichnen können. Ich spaziere unter hoch aufgehängten Schriftstellerporträts und Gazetüchern, auf die Seen und verschneite mexikanische Landschaften projiziert sind. Das Imperium ist auch hier präsent: Google, Microsoft, McGraw Hill, Thomson, MacMillan, aber was ich nie vergessen werde, sind die Gier, das so sichtbare Verlangen nach Wissen, und all die Bücher, die nie in Europa ankommen werden, Lokalgeschichte, Gedichte in indianischen Sprachen, die den Ozean nicht überqueren werden, das Festhalten an einer eigenen Welt, die von der Globalisierungsgewalt noch nicht ins Abseits geschoben wurde. Draußen berichtet ein schreiendes Radio auf einem Gerüst über riesige Lautsprecher von der soundsovielten Wendung im Präsidentendrama, es ist Vollmond, Indiofrauen verkaufen an kleinen Wagen verschiedene Eßwaren, und gemeinsam mit dem Rest der Menge treibe ich weiter über die Avenida de las Rosas. Morgen lasse ich den Trubel hinter mir und reise nach Uruapan, in die Stille des Sees von Pátzcuaro und des Landes außerhalb der Stadt.
Pátzcuaro
Da steht sie, alt, entschlossen und böse in ihrem violetten T-Shirt, auf der Plaza Vasco de Quiroga in Pátzcuaro. Sie hat eine
Beschwerde, und die steht in großen Lettern auf dem Plakat, das sie vor dem Tor des Rathauses in die Höhe hält, damit jeder es lesen kann. Bürgermeisterin
Mercedes Calderón ist korrupt, das Wahlvolk wurde von den Korrupten in die Falle gelockt, und gekapert hat die kostbaren Stimmen Mercedes. Die Zeitung von
heute hat nationale, größere Sorgen. Es gibt nach wie vor einen Gegenpräsidenten, der Aufruhr der Linken in Oaxaca ist noch nicht beendet, Drogenbanden
haben irgendwo im Westen die Polizei mit Maschinengewehren angegriffen, ein richtiger Krieg. Hier auf dem großen Platz ist davon nichts zu merken. Vasco
de Quiroga, der Bischof, der die Stadt vor Jahrhunderten gegründet hat, steht auf einem hohen Sockel in einem großen Wasserbassin, an dessen Rand sitzen
Mädchen und erzählen sich gegenseitig Geschichten, die er nicht hören kann. Alte Männer mit Gitarren und Geigen, weiße Hüte auf dem Kopf, gehen unter den
hohen Bäumen umher, Kinder kaufen ein Eis bei der Nevería la Pacanda, alles ist friedlich und ruhig bis auf die kleine Demonstration vor dem registro
civico . Ich bin durch Michoacán hierhergefahren. Weite Landschaften, unendliches Grasland mit schwarzem Vieh, ein großer, stiller See von der
Ausdehnung einer niederländischen Provinz. In der Posada de Don Vasco habe ich Quartier bezogen. Ich hätte auch La Casa Encantada nehmen können, das
Verzauberte Haus, oder La Mansión de los Sueños, das Große Haus der Träume, aber es ist gut hier, etwas außerhalb der Stadt, Galerien mit roten
Sandsteinsäulen um einen ruhigen Innenhof, Blumen, Palmen, Schatten, Ruhe und Stille. Die Straßen sind schmal, dies ist das alte indianische Herzland,
Pátzcuaro der bedeutendste Ort für die Menschen vom großen See. Nach Guadalajara ist dies ein anderes Mexiko, ich habe das Gefühl, erst jetzt angekommen
zu sein. Als ich weit vom Zentrum abkomme, sehe ich in der Ferne die Berge. Bei der großen Basilika ist Jahrmarktmit lautstarker Musik,
Buden voll rosa Puppen und Weihnachtskugeln, doch ein paar Straßen weiter ist davon schon nichts mehr zu merken. Ich besuche das Haus der Elf Innenhöfe
und lande in einem uralten Spanien, in dieser Stille könnte man
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