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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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tausend Jahre, die diese Fiktion, diese Mythologie, eine gesellschaftliche Realität war, besaß sie eine
     Logik, zu der das Menschenopfer notwendig gehörte. Man starb nicht zufällig und nicht umsonst. Alles hatte seinen Platz im System. Wir können lediglich die verzierten Ruinen betrachten, in denen sich ihr Leben abspielte. Was man sieht, sind die Gesichter von Göttern und mythischen Tieren, deren Namen wir kaum aussprechen können. Mitten in diesem riesigen Gelände steht die Pyramide des Kukulkán, einst der Hauptgott der Maya, der bei den Azteken Quetzalcoatl heißt, die gefiederte Schlange. Zweimal im Jahr kehrt diese Gott-Schlange auf die Erde zurück, was weniger ein Wunder ist als vielmehr ein Beweis für das phänomenale astrologische Wissen und das geniale architektonische Können der Maya. Es geschieht im Herbst und im Frühjahr, jeweils zur Tagundnachtgleiche. Das schwindende Licht des Nachmittags zaubert durch den Schatten der Pyramidenterrassen das Bild einer Schlange auf die Nordwesttreppe, die beängstigend steil nach oben fährt und die man heute nicht mehr besteigen darf. Was wir sehen, ist ein Naturphänomen, bei dem Astrologie und Architektur ein Spiel aufführen, was sie sahen, war eine riesige Schlange, die langsam die Treppe herunterglitt bis zur untersten Stufe: Der Gott war immer pünktlich. Und jedes Frühjahr brachte er etwas mit: Fruchtbarkeit, die Garantie für eine neue Ernte. Und auch an dem auf die Tagundnachtgleiche folgenden Tag beweist sich noch Jahr für Jahr das Genie der Maya: Eine ganze Viertelstunde lang steht die riesige Pyramide am frühen Morgen zur Hälfte im alles verzehrenden Licht und zur anderen Hälfte im Schatten. Bei der nächsten Tagundnachtgleiche wechseln Licht und Dunkelheit ihren Platz. Die Natur ist eine Uhr, und die Maya wußten, wie spät es war. Ihre Götter sind verschwunden, wie jene der Griechen verschwunden sind, aber ihre Uhr funktioniert immer noch. Sie ist geblieben, wie die Bilder und die Geschichten geblieben sind, zusammen mit den Rätseln, die sie zum Sinn unserer Anwesenheit auf der Erde aufgeben, seit wir wissen, daß die Systeme, in denen wir leben und sterben, genauso vergänglich sind wie wir selbst. Tausend Jahre später teilen wir den Planeten mit menschlichen Wesen, die in einem Buch gelesen haben, daß sie, wenn sie uns töten, dafür in einem Paradies belohnt werden.
    Uxmal, Steinring für das Ballspiel
Mérida
    Abend in Mérida. Wie auf einem Gemälde aus der Belle Époque sehe ich die Ober, weiße Hemden, schwarze, auseinanderstrebende Hosenträger, sie starren hinaus in den stürmischen Regen und die tropischen Böen, die in die Bäume auf der Plaza Hidalgo fahren. Hanf machte Mérida zu Beginn des letzten Jahrhunderts reich, das ist überall noch zu sehen. Später, als sich der Wind gelegt hat, gehendie Lichter in den Bäumen wieder an. Palmen schlagen ihre Fächer nach allen Seiten aus, Buchsbaumsträucher haben sich durch die Schere des Gärtners in Würfel verwandelt, Autoreifen zischeln über den nassen Asphalt, Passanten sprechen mit leisen Stimmen, als schlafe jemand, der nicht aus seinem Traum geweckt werden darf. Ich gehe am düsteren, mächtigen Haus der Montejos vorbei, die Yucatán einst für den spanischen König regierten. Nach den Ruinen der Maya wirkt die große Kathedrale plötzlich klein, ein Eindringling, der sich inzwischen schon fast 500 Jahre gehalten hat und seinen eigenen Gott und seine eigenen Priester mitgebracht hat. Die späten Vögel in den Bäumen kümmert es nicht, und auch die Verliebten und die letzten Schuhputzer lassen die zwölf schweren Schläge der Mitternacht Mitternacht sein, ich gehe zurück in mein Zimmer in dem altmodischen Hotel. Unten binden die Ober die Terrassenstühle mit Ketten aneinander, und ich betrachte die Fotos von allem, was ich in den letzten Tagen gesehen habe, die Pyramide des Zauberers, den Thron des Jaguars, den Palast des Gouverneurs, das Haus der Nonnen, Namen wie hilflose Lügen, die die Spätankömmlinge den Bauten in dem Versuch gegeben haben, das Geheimnis einer überwältigenden Architektur und den ihr zugrunde liegenden Gedanken in Worten einzufangen. Aber es gelingt mir nicht, jetzt genausowenig wie an dem frühen Morgen in Uxmal, als ich davorstand, eine kleine gezeichnete Gestalt auf einem unermeßlich großen Feld, vor mir und links und rechts von mir diese riesigen Bauten in der morgendlichen Stille, gemeißelter Stein voller Masken und Zeichen, die nie

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