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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Vielleicht hört man deswegen so wenig von dem Eiland.
     
    II. Réunion. Jemand hat diese Insel mit voller Hand aus dem Ozean geschöpft, sie so hoch wie möglich gehoben und dann losgelassen, auf der Karte sieht es aus, als falle sie nach allen Seiten hin steil ab, so viele gewundene Straßen auf einer einzigen Karte habe ich kaum je gesehen. Réunion ist ein französisches Departement, ein letzter Rest Kolonialvergangenheit, woran das ferne Mutterland jedesmal wieder erinnert wird, wenn in dem großen Land in Europa Wahlen stattfinden und man dort Stimmen braucht. Tropisch, vulkanisch, selbst wer hier nur einen Tag verbringt, kann die Insel mit dem Auto umrunden, hat dann aber nichts vom Landesinneren gesehen, das von einer Bastion aus Kratern, Dschungel und über 3000 Meter hohen Bergen beschützt wird. Die wilden Landschaften werden demEintagsbesucher später in seinen Träumen erscheinen. Er erkennt die Verkehrsschilder, als wäre er in Roubaix oder an der Côte d‘Azur, doch der Vulkanboden ist dunkler, die Vegetation üppiger, die Farbenpracht der Blumen greller. Zwischen 1914 und 1918 starben dreitausend Soldaten von dieser Insel auf den kalten Schlammschlachtfeldern Nordfrankreichs in einem Krieg, mit dem sie nichts zu schaffen hatten. Aber: Man gehört zu einem Reich, oder man gehört nicht zu ihm. Die kleine Insel ist ein Supermarkt des Göttlichen, auch hier fehlt es dem Höheren an nichts. Alle Orte entlang der Küste stehen unter dem Schutz eines Heiligen, Saint-Pierre, Saint-Paul, Sainte-Marie, SaintLeu, Saint-Denis, aber es gibt auch sieben Moscheen, die Tamilen verehren ihre farbenfrohen Götter, und die chinesischen Buddhisten haben ihre eigene Pagode. Ich spaziere über die Avenue de la Victoire und lasse mich in der Menge über die Uferpromenade Barichois mittreiben, vorbei an Gärten und Kanonen im samtenen Dunkel, im gedämpften Neonlicht sehe ich das Filigran der Kolonialarchitektur, die Spitzenklöppelei an Balustraden und Dachverzierungen, und denke an den großen Dichter Charles Marie René Leconte de Lisle, der hier geboren ist und dessen Grab ich in Paris aufgesucht habe. Hatte er Heimweh nach seiner tropischen Insel, auf der es immer nach Vanille duftete? Und entsprang sein schmachtendes Nachtgedicht »Nox« der Einsamkeit des Vulkanlandes, so weit entfernt von der Metropole, verborgen in der Leere des Ozeans?
    […]
    Montez, saintes rumeurs, paroles surhumaines,
    Entretien lent et doux de la Terre et du Ciel!
    Montez, et demandez aux étoiles sereines
    S’il est pour les atteindre un chemin éternel.
     
    O mers, ô bois songeurs, voix pieuses du monde,
    vous m’avez répondu durant mes jours mauvais;
    Vous avez apaisé ma tristesse inféconde
    Et dans mon cœur aussi vous chantez à jamais!
     
    […]
    Auf! Jenseitsstimmen, die ihr Unruh tragt,
    Ihr Laute zwischen Erd‘ und Himmel, steigt!
    Erhebt zu hellen Sternen euch und fragt
    Nach jenem Weg, der bis zu ihnen reicht!
     
    O Meer, ihr Wälder, frommer Erdenmund,
    Ihr wolltet, da die Zeit mich schlug, nicht ruhn!
    Ihr senket Frieden in der Trauer Grund
    Und singt für immer mir im Herzen nun.
    An dem flüchtigen Tag, an dem mein Schiff dort zwischen zwei anderen Stationen anlegt, steht der Wetterbericht von Frankreich
     (Straßburg minus 5 Grad) neben dem von Réunion (Saint-Denis 30 Grad), kosten Hühnerschlegel aus den Niederlanden 1,90 € pro Kilo, ist in Saint-Denis ein Küken mit vier Beinen zur Welt gekommen und will der stellvertretende Bürgermeister von Tampon, André Thien-Ah-Koon, nach dreißig Jahren lieber selbst zurücktreten als vom Kassationshof abgesetzt werden. Dies alles im Le Journal de l‘Ile . Ein Sturm wird nicht erwartet,die Arbeitslosigkeit ist hoch, die Heilige Jungfrau mit dem Sonnenschirm beschützt noch immer die Vanilleplantagen, und in Kürze, zwischen dem 15. Februar und dem 15. April, dürfen diejenigen, die eine entsprechende Jagdlizenz besitzen, wieder Igel jagen. Vier Monate nach meiner Abreise bricht der Piton de la Fournaise aus, in einer wahnsinnigen Feuersglut stürzen die Kraterwände ein, und in einem kilometerlangen Strom flüssigen Feuers sucht die brennende Lava sich über die steilen Hänge einen Weg in den Ozean.
     
    III. Madagaskar . Sehr früher Morgen. Durch das Bullauge an Backbord sieht das Meer aufgewühlt aus, kurze, gemeine Wellen, Sturzflüge großer Möwen vor dem tosenden Blei. Als ich an Deck gehe, muß ich mich festhalten. Rechts die schartigen Hügel von

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