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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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hätten die Insel entdeckt, und nannten sie Schwaneninsel, der Überlieferung zufolge weil sie einen Dodo gesehen hatten, doch wer das glaubt, der spinnt. Dodos haben keine Ähnlichkeit mit Schwänen. Im übrigen fragt man sich, was das für ein Gefühl sein mag, eine Insel zu entdecken, die bereits da ist. Plötzlich liegt in der Ferne ein vager Fleck, der langsam Umrisse bekommt, Hügel, Berge. Nach den Portugiesen kamen die Niederländer und gaben der Insel den Namen ihres Statthalters Maurits. Tabak wird angepflanzt und Zuckerrohr, aber ansonsten machen wir alles falsch, denn dadurch, daß wir zuviel tropisches Holz schlagen, schaden wir dem Markt in Holland. Wir ziehen ab. Piraten aus Madagaskar haben freies Spiel, bis die Franzosen kommen, danach halten Franzosen und Engländer sich gegenseitig in Schach,und im vorigen Jahrhundert erlangt die Insel ihre Unabhängigkeit.
    In der Welt kennt man sie wegen zweier Dinge, die beide mittlerweile verschwunden sind, die berühmte blaue Briefmarke, die ein Vermögen wert ist, und den unglücklichen Dodo, den wir ausgerottet haben. Die religiösen Folgen der Kolonialgeschichte passen nicht wirklich in Darwins Evolutionslehre, und sollten sie es doch, läßt sich nie mehr exakt ausrechnen, wie. Jeder holte sich seine afrikanischen Sklaven woandersher, und als das nicht mehr erlaubt war, kamen die Vertragsarbeiter, gefolgt von den Chinesen, die überallhin gehen, wo Menschen sind, und das Ergebnis sieht man jetzt auf den Straßen von Port Louis, Chinesen, Hindustani, Muslime, Schwarze, teilweise mit Spuren der verschiedenen Kolonialherren, die auf jeden Fall ihre Sprachen hinterlassen haben. Le Clézio stammt von dort, der Grundton ist französisch, wie auch die meisten Namen auf der Karte: Cap Malheureux, Poudre d‘Or, Trou d‘Eau Douce, Mon Désert, Bel Ombre, Curepipe, le Morne Brabant. Was habe ich dort getan? Beschlossen, einmal wiederzukommen. Eine kleine Insel ist zugleich ihr Gegenteil, das heißt ein Kosmos. Viel mehr als fünfzig Quadratkilometer umfaßt Mauritius nicht, aber das ist, ebendiesem Gegenteil zufolge, unermeßlich groß. Um dies zu erfahren, muß man sich nur einen Nachmittag lang mit der Lokalpolitik und den Namen in der örtlichen Zeitung, Le Mauricien , beschäftigen, dann weiß man sofort, was man nicht weiß. Siva Palayathan, Rajayswur Bhowon, die Sergeants Roussety, Ramsamy und Mariane, Lin Ho Wah, Maurice Adaken – in jeder multiethnischen Gemeinschaft erkennt jeder sofort, auf welche Herkunft ein Name verweist.
    Der Dodo, auch Ekelvogel genannt
    Alle Filialen des Höheren sind hier vertreten, die Zentrale oben kann zufrieden sein. Moschee und Kathedrale liegen in Port Louis nahe beieinander, in der Kathedrale findet gerade eine chinesische Hochzeit statt, und kurz darauf gehe ich auf Strümpfen unter einer Luftflotte von Ventilatoren zwischen Männern in weißen Dschellabas mit weißen Scheitelkäppchen an einem Schild Madrassa Tahfeez ul Q‘uran vorbei und den Zeiten fürs Gebet  4.12, lever du soleil 5.34, Ishrak 5.49 . In meinem Hotel russische Neureiche, die so tun, als hätten sie die Insel bereits gekauft, die sanftmütigen Angestellten müssen sich erst noch an deren Lautstärke gewöhnen. Nein, ich bin viel zu kurz hier, und so trete ich die Flucht nach vorn an, miete ein Auto, fahre über die Hochebene, komme an Sandstränden und Dörfern mit Hindutempeln vorbei und sehe mir schließlich im Museum die Knochen des ausgestorbenen Dodos an, mit dem Alice in ihrem Wunderland ein solch interessantes Gespräch führte. Adriaen van de Vennehat 1626 einen gezeichnet, ein Scheusal mit merkwürdig überhängendem Schnabel, Flügeln im Embryonalstadium und albernem aufgerolltem Schwanz, großen, runden Augen unter einer Art Pony, die einen erstaunten Ausdruck ob der eigenen Häßlichkeit zeigen. Walghvogel (Ekelvogel) oder dodaers (Federstert) nannten die Niederländer dieses groteske, flugunfähige Geschöpf, aber das hat meine Landsleute nicht daran gehindert, es bis zum letzten Exemplar abzuschießen und aufzuessen, obgleich das Fleisch so zäh war. Als das Schiff ausläuft und ich die Insel am Horizont verschwinden sehe, habe ich das Gefühl, diese beiden Tage geträumt oder mir ausgedacht zu haben, ich bin kurz mit einer geschlossenen Welt in Berührung gekommen, die dort in der Ferne, zwischen Indien, Afrika und Australien, ihr eigenes buntes Leben führt, ohne daß die einzelnen Religionen einander nach dem Leben trachten.

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