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Schiffstagebuch

Schiffstagebuch

Titel: Schiffstagebuch Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Fragen ist auf all diesen Gesichtern nichts erkennbar. Später, als ich der Festfreude den Rücken gekehrt habe und durch ruhige, elegante Alleen mit großen Häusern gehe, komme ich an der reformierten Kirche vorbei. Von drinnen schallt der schwere Gesang heraus, den ich aus den Niederlanden kenne, der träge, gedehnte, monotone Fluß der Psalmen, Stimmen von Männern und Frauen, tief und hoch, massiv und überzeugt. Als ich die Tür öffne, sehe ich eine große Menge Weißer. Die Kirche ist bis zum letzten Platz besetzt.
    Eine Woche später bin ich, weit außerhalb von Kapstadt, auf einem alten Landgut zu Besuch. Der Hausherr ist der letzte seines Geschlechts, das Anwesen seit Jahrhunderten im Familienbesitz. Backstein, niederländische Bauweise, ein Landhaus, wie es auch an der Vecht stehen könnte. Die Gäste schlafen in den früheren Sklavenbehausungen, unter Brautschleiern aus Moskitonetzen. Es gibt keine Klimaanlage, die Hitze überwältigt alles, läßt auch nachts nicht nach, wir sind hier nicht in den Niederlanden, sondern eindeutig in Afrika. Auf der Visitenkarte des Besitzers steht: Schweineschlachter, Pilot, Anwalt beim Obersten Gerichtshof . Beim Abendessen sind wir fünfzehn. Leuchter, Kerzen, der Hausherr spielt Chopin und dann eine Platte von André Hazes, wozu er sich ein orangefarbenes Tuch um die Schultern drapiert. Auch hier sind die Angestellten schwarz, schwere Frauen, gutmütig, ernst, Mutterfiguren, der Gedanke an Vom Winde verweht liegt nicht fern. Einer der Gäste, ein junger Mann, erzählt von seinem Wettkampf bei den Olympischen Spielen in Sydney, wie er, angefeuert von den Schreien der Zuschauer, ineiner Art Rausch seinen Lauf gewonnen hat, danach aber den Sport aufgeben mußte, eine Geschichte von Sieg und Niederlage. Wir anderen sitzen und hören zu unter den Leuchtern, die Kerzenflammen flackern sacht im Abendwind. Später gehen wir hinaus, jeder in sein eigenes Häuschen. Stein ist ungerührt, will nichts von den einstigen Sklaven erzählen. Sogar das Wort Sklave ist auf einmal merkwürdig, als könne man es in diesem Raum nicht aussprechen. Ich gehe ins Freie, es ist eine klare Nacht, mache noch einen kurzen Spaziergang. Auf dem kleinen Friedhof liegen die Vorfahren, die früheren Sklaven halter , so heißt das. Im Mondlicht kann ich ihre Namen entziffern. Ich spüre die endlose Weite des Landes ringsum, höre das leise Geräusch des trägen Flusses, der hier vorbeifließt, Nachtvögel, Pferdegewieher. Am nächsten Morgen spielen wir Krocket auf dem Rasen am Fluß, das Wasser hat die Farbe von Wüstensand.
    In derselben Woche spricht Mbeki von Land, das der Verfassung zufolge anders verteilt werden müsse. In der Zeitung lese ich später, daß bei der Wahl
     eine Weiße die schwarze Bürgermeisterin von Kapstadt besiegt hat. Wo war ich? Habe ich mit den richtigen Augen geschaut? War ich ein Passant in den
     Ausläufern einer unmöglichen Vergangenheit, oder habe ich ein Land gesehen, in dem eine mögliche Zukunft entworfen wird? In den alten Landhäusern eine
     Geschichte, die sich nostalgisch selbst idealisiert, weit entfernt von jener anderen Vergangenheit der Apartheid und Sklaverei, die in den Townships
     chaotisch weiterwuchert, ein noch lange nicht verarbeitetes Erbe, auf der Suche nach irgendeinem Modus vivendi. Und alles dazwischen, der unberechenbare
     Kochtopf der Geschichte.
     
    V. Kap Agulhas. Unausrottbar, der Drang zum weitest entfernten Punkt. Auf der Karte habe ich gesehen, daß der
     südlichste Punkt dieses gesamten unermeßlich großen Kontinents Kap Agulhas heißt, woraus folgt: Ich muß dorthin. Ich habe auf der R 43 Kurs darauf
     genommen, muß dann aber an Wolvengat und Zoetendalsvlei vorbei zur R 319, die nach Süden führt. Wind, leere Landschaften, Raum. Und stets die Verführung
     der Namen, jetzt noch verstärkt durch das Afrikaans, diese merkwürdige Enkelin meiner eigenen Sprache, Hand in Hand mit dem Englisch der anderen:
     Gansbaai, Danger Point, Uilenkraalsmond, Pearly Beach, Buffeljags, die Dam, Struisbaai: Gänse, Gefahr, Eulen, Perlen, Büffel, Strauße, Wölfe und süße
     Täler – Namen haben immer so viel zu erzählen. Erst danach, am Ende meines Wegs, kommt die dritte Sprache hinzu, Portugiesisch, denn wer als erster da
     ist, darf den Namen vergeben. Das ist ungerecht, denn dieses Kap hatte natürlich längst einen einheimischen Namen in einer Sprache, die die Portugiesen
     weder verstehen noch aussprechen konnten. Doch der erste

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