Schiffstagebuch
etwas anderes erwidern würden als das Geheimnis, aus dem sie bestanden und aus dem die Menschen, die es erschaffen hatten, verschwundenwaren und diese Tür aus Stein für immer hinter sich geschlossen hatten.
Ein Abend auf dem Zócalo
Mexico City. Das Land hat noch immer seinen Präsidenten und seinen Gegenpräsidenten, aber gegen das Amt des ersteren kommt letzterer
nicht mehr recht an. Es sind die Tage vor Weihnachten. Ich habe die Metro zum Zócalo genommen, dem großen Platz in der Hauptstadt, der das Herz des Landes
ist und bereits vor der Ankunft der Spanier das Zentrum der aztekischen Welt war. Ich bin nicht allein, ein paar Millionen Menschen sind auf den
Beinen. Die Bürgersteige überfüllt mit Buden und Essensständen, alle fünfzig Meter ein Polizist, Straßenmusiker, und dann auch noch die Autos, die sich
durch die gewaltige Menschenmenge zwängen. Aber es geht immer noch schlimmer. Ich werde ganz von selbst, ohne etwas zu tun, wie ein anonymer Teil der
Masse auf den großen Platz gespült. Dort herrscht ein Höllenspektakel, soviel ist sicher. In der Ecke gegenüber der Kathedrale das Philharmonische
Orchester von Mexiko in einem riesigen Zirkuszelt. Schräg gegenüber davon eine kommunistische Kundgebung mit den goldenen Köpfen von Lenin, Federico
Engels, Carlos Marx und José Stalin auf rotem Tuch, die dank dieser spanischen Vornamen gleich viel freundlicher wirken. Ein extrem lautes Mikrophon
schreit die verflossene Heilsbotschaft über den Platz, stark gestört durch eine Reihe fast nackter Männer mit Federschmuck, die auf riesige Trommeln
schlagen und besessen tanzen. Sie tun das exakt in der Mitte zwischen dem Orchester und der politischen Botschaft, und jeder mit maximaler Lautstärke. Das
Orchester probt den »Trepak« aus der Nußknackersuite von Tschaikowsky und geht dabei ganz auf die Menge ein, ungefähr so wie wir früher in der Schule
»Eine Stunde Musik« hatten: Sie zeigen, wie eine Komposition aufgebaut ist, mit jeweils einer Gruppe von Instrumenten. Das heißt: zuerst die Blechbläser,
dann die Holzbläser, dann die Geigen, dann die Celli, um zuletzt die gesamte Suite zu Gehör zu bringen. Die Menge lauscht atemlos den einsamen Celli, dem
von merkwürdigen Momenten der Stille umgebenen losdreschenden Schlagzeug, den plötzlich so dünn klingenden Flöten und wartet auf die Auflösung, die hier
ja gerade eine Zusammenführung all dieser isolierten Klänge werden muß, ein großes, tanzendes Ganzes. Der Dirigent, in dessen Partitur weder die
Arien von Marx und Lenin noch die Urgewalt der aztekischen Derwische stehen,klopft immer wieder unbeirrt ab und beginnt neu, bis die
Analyse zu Ende geführt ist. Jetzt tauchen die Musiker auf zwei gigantischen Fernsehschirmen auf, so daß die Musik auch zu sehen ist, der
hundertfach vergrößerte einsame Hornist mit seinen geblähten Wangen, die Bratschisten, die sich vom stets heftiger werdenden Rhythmus der indianischen
Trommeln nicht ablenken lassen dürfen, der Dirigent, der das höllische Spektakel anscheinend vorbildlich in der Hand hat und so tut, als gäbe es all die
anderen Geräusche nicht, und schließlich den russischen Tanz in all seiner prämarxistischen Bauernfreude über den Platz strömen läßt. Als in diesem
Augenblick auch noch die mächtigen Glocken der kolonialen Kathedrale zu läuten beginnen, weiß ich, daß meine Mexiko-Reise zu Ende ist. Pyramiden und
Kathedralen, Kommunisten und Prälaten, Tschaikowsky und Lenin, Götter und Menschenopfer, für mehr ist kein Platz.
15. Mai 2007
Mexico City, Zócalo
5
Die Ruderer von Port Dauphin
Schiffstagebuch II
I. Mauritius. Ich habe kein Recht, etwas über diese Insel zu sagen, ich war nicht da. Oder, besser gesagt, ich bin zwar dort gewesen, aber nur auf Stippvisite. Ich flog an einem Silvesterabend hin, irgendwo über dem Sudan sagte der Kapitän, das neue Jahr sei da, es gab Champagner, dann las ich weiter, Mauritius, eine Insel aus Wörtern. Ich muß dort das Schiff erwischen, das mich weiter nach Südafrika bringen wird. Dasselbe Schiff und derselbe Kapitän wie bei der Reise um Kap Hoorn, darauf freue ich mich. Inzwischen hat er bereits wieder zweimal die Welt umrundet. Ich auch, allerdings anders.
Wir fliegen hoch, die Turbulenzen lassen die Maschine tanzen. Irgendwo dort unten muß sie liegen, eine Insel im Ozean. Einst waren die Araber dort gelandet, dann kamen die Portugiesen, blieben aber nicht. Sie waren der Meinung, sie
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