Schilf im Sommerwind
Schreibtisch zu sehen.« Martha wischte sich über die Augen. »Deshalb habe ich sie in den Wäscheschrank verbannt, damit ich sie nicht ständig vor Augen hatte. Ich schämte mich jedes Mal wegen meines Verhaltens –«
»Im Wäscheschrank, sagst du?«
»Ja. Auf dem obersten Regal.«
Dana küsste ihre Mutter auf den Scheitel. Maggie sprang von Marthas Schoß und rannte die Treppe hinauf, als gäbe es mit einem Mal Wichtigeres zu tun, als ihrem Frauchen Gesellschaft zu leisten. Dana hatte keine Ahnung, was sie zu finden hoffte, aber ihr Herz klopfte, als hätte Lily soeben den Raum betreten.
Sam stand auf dem Deck des Patrouillenboots der Küstenwache und suchte mit dem Feldstecher das Wasser ringsum ab. Der peitschende Regen brannte in seinen Augen, perlte von seiner gelben Öljacke ab. Das Boot stampfte kreuz und quer durch den Hunting Ground, das Ziel, das die Mädchen voraussichtlich ansteuerten. Rund hundert Meter entfernt in der Schifffahrtsstraße fuhren ein Tanker und eine Schaluppe aneinander vorbei.
»Was wollen die zwei denn hier?«, fragte Tom Hanley, der Einsatzleiter der Küstenwache. »Hier draußen gibt es doch nichts zu sehen.«
»Das ist die Stelle, an dem das Boot ihrer Eltern gesunken ist.«
»Ich weiß – die
Sundance
. Ich hatte damals Dienst und musste raus. Aber was haben zwei kleine Mädchen hier zu suchen?«
»Sie kennen die beiden nicht.«
»Schrecklich, dieser Untergang. Konnte mir keinen Reim darauf machen. Ruhige See, solides Boot, gute Segler.«
»Sie sind mit einer Schlepptrosse kollidiert.« Sam beobachtete, wie von Westen her ein Schleppzug nahte.
»Tatsächlich? Woher wissen Sie das?«
»Ich bin zu dem Wrack hinuntergetaucht. Dort fand ich Fasern von dem Tau; ich habe sie bereits an einen der Leiter Ihres Havariekommandos geschickt. Die Chancen, den Schleppzug zu lokalisieren, sind nicht groß, aber er überprüft die Schifffahrtsunterlagen von besagtem Abend.«
»Klingt einleuchtend«, sagte Hanley. »Vor allem, wenn man bedenkt, dass im Long Island Sound Hochbetrieb herrscht. Hier schippern unzählige Privatboote herum, und das, obwohl sich hier der Superhighway des kommerziellen Schiffsverkehrs zwischen Boston und New York City befindet. Alles muss durch dieses Nadelöhr – und der Versuch, die Schnellstraße zu queren, kann ins Auge gehen. Ich finde es erstaunlich, dass so etwas nicht öfter passiert.«
»Ich hoffe, dass es heute nicht passiert.« Sam hielt angestrengt nach der
Mermaid
Ausschau.
»Wenn das Unwetter sie nicht zuerst erwischt.« Hanley schüttelte den Kopf. »Der Sturm selber geht ja noch. Aber den beiden fehlt die Segelerfahrung, und das Boot ist die reinste Nussschale.«
»Ich weiß.«
Das Patrouillenboot der Küstenwache fuhr langsam nach Westen und nahm Kurs auf die grüne Tonnenboje, die den Beginn des Hunting Ground kennzeichnete. Hier herrschte schwerer Seegang, und die meterhohen Wellen zu durchpflügen glich einer Berg-und-Tal-Fahrt, aber wenn das Meer spiegelglatt gewesen wäre und Sam sich umgedreht hätte, hätte er ein kleines blaues Segelboot erspäht, mit einem weißen, zum Zerreißen gespannten Segel, das vom Hunting Ground weg in Richtung Osten fuhr, in die Richtung, in der die Insel Martha’s Vineyard lag.
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24
D as Wetter schlug blitzschnell um. Der Tag war klar und windstill gewesen, nun sahen der Himmel grau und die Wellen mächtig aus. Nicht so riesig wie bei einem Hurrikan oder einem steifen Nordostwind, sondern nur ziemlich hoch. Höher als jeder Seegang, bei dem Quinn in diesem Boot jemals gesegelt war. Sie umklammerte die Ruderpinne mit aller Kraft, zog sie an ihre Brust und fuhr in das Wellental hinein, um zu verhindern, dass sie kenterten. Allie starrte auf den Kompass, als sei er eine Kristallkugel, der Auskunft über die Zukunft zu geben vermochte. Kimba klemmte tropfnass in ihrer Armbeuge. Alle waren bis auf die Haut durchnässt.
»Neunzig, Quinn!«, sagte Allie, den Kompass lesend.
»Alles klar, Al.«
»Sind wir bald da?«
Quinn stöhnte auf. Herrgott, was glaubte sie denn, was das war, eine Spritztour mit dem Auto? Das sah Allie wieder mal ähnlich, sich während der Fahrt zu langweilen und ständig zu fragen, ob sie bald da wären. Ihre Mutter hatte sich Spiele ausgedacht, um sie zu beschäftigen: die Nummernschilder aus allen fünfzig Bundesstaaten oder die weißen Pferde auf den Koppeln zählen, oder wer als Erste das
Welcome to Rhode Island
-Schild sah.
»Was ist, Quinn? Sind wir bald
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