Schilf im Sommerwind
neben dem Fenster und hielt Wache. Der Regen prasselte gegen die Scheibe, man sah kaum die Hand vor Augen, aber sie hielt unbeirrt nach einem weißen Segel Ausschau. Dana dachte an den Verlust, den ihre Mutter bereits erlitten hatte, und eilte zu ihr.
»Hallo Mom.«
Maggie sah hoch und bellte. »Du bist ja auch hier, Mag«, sagte Dana, froh darüber, dass die Hündin ihrer Mutter Gesellschaft leistete.
Martha konnte den Blick nicht vom Fenster lösen. Sie starrte auf den Sund hinaus.
»Wo mögen sie stecken?«, fragte sie.
»Ich weiß es nicht«, erwiderte Dana.
»Am liebsten würde ich den schwarzen Peter weitergeben. Als Sam uns von der Schlepptrosse erzählte, war ich ihm sehr dankbar. Eines Tages werden wir erfahren, wem der Schlepper und das havarierte Schiff gehört und wer für Marks und Lilys Tod verantwortlich ist. Aber was die Mädchen angeht, gibt es nur eine Schuldige, und das bin ich.«
»Nein, Mom. Es ist nicht deine Schuld.«
»Ich hätte besser auf sie aufpassen müssen. Als sich herausstellte, dass Quinn nicht in ihrem Bett geschlafen hat, hätte ich die Polizei benachrichtigen müssen. Aber ich redete mir ein:
Typisch Quinn, ein Freigeist, genau wie ihre Tante. Sie ist irgendwo unterwegs, auf einem ihrer abenteuerlichen Streifzüge …«
»Findest du, dass sie mir ähnlich ist?«
»Und ob. Lily war auch der Meinung.«
»Inwiefern?«
»Sie ist ständig auf der Suche«, erwiderte Martha, ohne den Blick vom Meer zu lösen. »Sie will mehr, will alles auskosten, was das Leben zu bieten hat. Ein Charakterzug, der Lily gefiel.
Sie wird ein Nomadenleben führen, genau wie Dana. Ich werde die beiden in Timbuktu besuchen,
pflegte Lily zu sagen.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Lily das gefiel. Sie wollte immer, dass ich nach Hause komme.«
»Es gefiel ihr, das schon – aber sie hätte dich trotzdem gerne in ihrer Nähe gehabt. Sie hat ihre Schwester vermisst.«
»Und ich vermisse sie.« Tränen brannten in Danas Augen.
»Ich weiß, Liebes.«
Sie saßen beisammen, dachten an Lily und hielten Wache, hielten nach Lilys Töchtern Ausschau. Die Angst und das Warten auf eine Nachricht waren für Dana unerträglich. Sie wäre gerne in den Schuppen hinuntergegangen, den Quinn eigenmächtig umgestaltet hatte, hätte das Nordlicht genutzt, um einen Talisman zu malen, der magische Kräfte besaß und die Mädchen sicher nach Hause bringen würde. Automatisch berührte sie den Schlüssel, den sie um den Hals trug, und dachte an das Medaillon, von dem Lily sich nie getrennt hatte.
»Erinnerst du dich an den Kolonialwarenladen von Miss Alice?«, fragte sie.
»Natürlich. Dort habt ihr beide euer ganzes Taschengeld gelassen. Bis ihr anfingt, für das Boot zu sparen …«
Dana schauderte; sie wünschte, Lily und sie hätten die
Mermaid
nie gekauft. »Marks Firma befand sich direkt über dem Laden von Miss Alice. Glaubst du, Lily hatte dabei ihre Hände im Spiel?«
Martha lächelte. »Mit Sicherheit. Dadurch, dass Mark seinen Firmensitz ausgerechnet dort aufschlug, schuf sie eine Verbindung zu dir, eurer gemeinsamen Kindheit und vielen Dingen, die euch lieb und teuer waren.«
»Wie der Laden von Miss Alice.« Dana stellte sich die Regale vor, die angefüllt waren mit Bonbongläsern voller Süßigkeiten, Büchern, Teegeschirr aus Porzellan und Glasschalen.
»Dort hat Lily ihre Schmuckschatulle gekauft.«
»Ihre was?«
»Die Schmuckschatulle.« Martha schüttelte den Kopf. »So nannte Lily sie zumindest. Gearbeitet wie eine Aussteuertruhe in Miniaturformat, nicht größer als ein Schulbuch. Du hast sie bestimmt in ihrem Zimmer gesehen.«
»Kann sein, aber sie hat im Lauf der Jahre viele dekorative Behälter gesammelt.«
»Die Schatulle war etwas Besonderes. Sie hatte Intarsien aus Mondstein, vermutlich am Little Beach gefunden. Sie bewahrte ihr Tagebuch darin auf. Nachdem ich die Todsünde begangen hatte, es zu lesen …«
Die Mondstein-Schatulle. Dana hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht, aber sie erinnerte sich nun: poliertes Mahagoni, mit einer Reihe kleiner glänzender Steine rund um die Kante.
»Auch eine Sache, die ich am liebsten ungeschehen machen würde«, sagte Martha. »Ich wollte, ich hätte nie ungebeten eure Zimmer betreten, nie in euren Tagebüchern geschnüffelt, sondern einfach darauf vertraut, dass ihr euch so entwickelt, wie ihr geworden seid: wundervolle Frauen, auf die ich stolz sein kann.«
»Danke, Mom.«
»Es war die Hölle für mich, die Schatulle auf ihrem
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