Schilf im Sommerwind
Miene und Stimme einen bedrohlichen Ton, um Allie in die Flucht zu schlagen. Verflixt, jetzt war ihre Kehle auch noch wie zugeschnürt. Dabei hatte sie das Abschiednehmen um jeden Preis vermeiden wollen.
»Wem sollte ich denn was verraten?«
»Grandma, Tante Dana … aber das lässt du schön bleiben.«
»Ich sage nichts, wie sollte ich auch?«
»Was heißt denn das?«
»Ich komme mit.«
Quinn glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Allie war zu nichts Nütze bei dieser Mission. Sie würde nur im Weg sein.
»Kommt nicht in Frage.«
Allie nickte nur, ihre blonden Locken hüpften auf und ab. »Oh doch.«
»Du hast Angst vorm Segeln. Du gerätst in Panik, wenn das Boot krängt, und wir werden ganz schön oft Schlagseite haben.« Als Allies Entschlossenheit wuchs, blieb Quinn keine andere Wahl, als eine noch härtere Gangart einzulegen. »Du heulst dir die Augen aus dem Kopf. Du bist das reinste Wickelkind – du könntest dich nicht eine Minute von Kimba trennen. Der klebt ja regelrecht an dir. Dieses blöde Katzenvieh …«
Das war das Zauberwort. Allies Augen füllten sich mit Tränen, liefen ihr über die Wangen, und ihre Unterlippe zitterte, so dass Quinn ein schlechtes Gewissen bekam. Aber es galt, sich auf ihr Ziel zu konzentrieren: Sie war auf dem Sprung und musste los, bevor Grandma das Segel entdeckte und die Küstenwache alarmierte, um sie aufzuhalten. Schweren Herzens machte sie sich wieder daran, das Boot ins Wasser zu schieben.
»Ich lasse Kimba hier, wenn du mich mitnimmst«, rief Allie weinend und zerrte an Quinns Shorts.
»Ich kann nicht, Al.« Nun kamen auch Quinn die Tränen.
»Wohin willst du denn?«
»Weit weg, Allie. Sehr weit weg. Ich rufe dich an, sobald ich angekommen bin, okay? Dann kannst du mit der Fähre nachkommen.«
Im seichten Wasser, die Füße im Sand eingegraben, drückte Allie Kimba an ihre Augen und schluchzte. Die Wellen plätscherten gegen ihre Knöchel und den Rumpf des Bootes. Quinn hielt es an der Seite fest, damit es nicht schlingerte. Sie beobachtete ihre Schwester aus dem Augenwinkel, und ihr Herz klopfte, als schlüge es Purzelbäume. Es gab niemanden auf der Welt, den Quinn mehr liebte als Allie. Sie war alles andere als vollkommen und hatte nahe am Wasser gebaut, aber sogar Quinn konnte sich der Tränen jetzt nicht mehr erwehren. Und außerdem – die bevorstehende Fahrt war
wirklich
lang und einsam …
»Okay, Allie. Steig ein.«
»Du meinst …?«
»Ja, du kannst mitkommen.«
»Soll ich Kimba ins Haus zurückbringen?«
Quinn schüttelte den Kopf – über die idiotische Idee, sie würde warten, bis Allie den Hügel raufgelaufen und wieder zurück war, und weil sie sich eingestehen musste, dass sie Kimba dabeihaben wollte. Er war ein Bindeglied zu ihrer Kindheit, zu ihren Eltern. »Du kannst ihn mitnehmen«, entschied sie. »Leg die Schwimmweste an.«
»Danke, Quinn.« Allie kletterte über die Seite in die
Mermaid.
Quinn folgte ihr. Sie klappte das Ruderblatt nach unten, senkte das Kielschwert ab. Dann überzeugte sie sich, dass ihr Tagebuch sicher am Fußknöchel befestigt war. Sie zog die orangefarbene Schwimmweste an und befahl Allie, das Gleiche zu tun. Sie versuchte, sich an alles zu erinnern, was Tante Dana ihr beigebracht hatte, als sie nun auf der Leeseite Platz nahm und die Segel trimmte.
»Wohin wollen wir überhaupt?«, fragte Allie, als das Boot mit dem Bug zum Wind drehte und am Felsenvorsprung von Hubbard’s Point entlangschlingerte. Statt zu antworten, griff Quinn in ihre Tasche und reichte ihr den Kompass.
»Martha’s Vineyard.«
»Das ist weit!«
»Du sagst es.« Quinn spähte zum Himmel empor, der blau war, mit fedrigen weißen Wolken am Horizont im Westen. »Aber die Sonne scheint, und es geht ein guter Wind, also kommen wir schon hin.«
»Warum?«
»Um etwas zurückzuzahlen, für Mommy und Daddy.«
»Wem denn?«
»Das erzähle ich dir, wenn wir da sind.« Und ihrem viel gerühmten Orientierungsvermögen vertrauend, fügte sie hinzu: »Es ist ganz einfach, Al. Wir müssen nur in östliche Richtung segeln, immer genau nach Osten, über den Horizont hinaus. Du behältst den Kompass im Auge und achtest darauf, dass er die ganze Zeit neunzig Grad anzeigt.«
»Neunzig.« Allie umklammerte Kimba und den Kompass.
»Und keine Angst – wir halten uns von der Schifffahrtsstraße fern.«
»Gut.« Allies Stimme klang nur ein wenig besorgt.
»Los geht’s!«, rief Quinn, das Pfeifen der Takelage übertönend, den flaumigen
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