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Schilf im Sommerwind

Schilf im Sommerwind

Titel: Schilf im Sommerwind Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Luanne Rice
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da?«, fragte Allie abermals, als die Wellen immer größer wurden.
    »Allie, siehst du irgendwelche Wegweiser? Oder einen Meilenstein am Straßenrand?«
    »Schrei mich nicht an!«
    »Ich schreie nur, damit du mich bei dem Wind hörst«, sagte Quinn. Der Wind heulte in ihren Ohren. Das Vorsegel hatte einen Riss, einen leichten, ungefähr auf halber Höhe, was zur Folge hatte, dass es knarzte wie eine wild flatternde Fahne. Sie wäre nie ausgelaufen, wenn sie geahnt hätte, dass ein solcher Wetterumschwung bevorstand.
    Sie spähte immer wieder nach rechts und links, um die Orientierung nicht zu verlieren. Sie hatten Orient Point schon vor einer Stunde weit hinter sich gelassen – den nordöstlichsten Punkt von Long Island zu ihrer Rechten. Linkerhand hatten sie Silver Bay und New London passiert, und nun befanden sie sich schätzungsweise auf der Höhe von Noank. Die weitläufige Landmasse vor ihnen, ungefähr im toten Winkel, musste Fishers Island sein.
    »Ist das Martha’s Vineyard?«, schrie Allie und löste den Blick für zehn Sekunden vom Kompass.
    »Nein. Fishers Island.«
    »Lass uns hier an Land gehen, Quinn!«, kreischte Allie. »Wir können warten, bis der Sturm vorbei ist, und später weitersegeln.«
    Quinns Augen verengten sich, sie hatte die Ruderpinne so fest umklammert, dass sie langsam Blasen an den Händen bekam. Der Regen prasselte auf ihr Gesicht und ihre Zöpfe. Allies Idee hatte etwas für sich, aber auch einen Haken. Wenn sie an Land gingen, liefen sie Gefahr, von Erwachsenen gesehen und postwendend nach Hause zurückgeschickt zu werden. Dann würden sie ein Leben lang Hausarrest erhalten und nie wieder eine solche Chance bekommen. Die mit Geld gefüllte Angelkiste war im Bug verstaut, so gut gesichert wie möglich.
    Ein Problem gab es allerdings, wie sie zugeben musste: Sie hatte Angst. Nicht nur um sich selbst, sondern auch um ihre Schwester. Das Unwetter war mehr als ein kurzer Regenschauer. Nach Fishers Island endete der Sund, und das offene Meer begann. Quinn war vorher noch nie mitten im Ozean gesegelt, ohne Land in Sicht.
    »Und was ist mit unserer Mission?«, flüsterte Quinn und wischte sich über die Augen, um Allie anzusehen.
    »Dem Mann das Geld zurückgeben?«
    »Ja.«
    »Können wir das nicht später erledigen?«
    »Vielleicht erhalten wir dazu keine Gelegenheit mehr.«
    »Tun wir das für Mommy und Daddy?«
    »Ja.«
    Allie dachte kurz nach, dann nickte sie entschlossen. »Okay. Ich möchte weiterfahren.«
    »Bist du sicher?«
    »Neunzig, Quinn«, schrie Allie, den Wind übertönend, als sie den Blick wieder auf den Kompass richtete. »Fahr weiter.«
    Warum hast du das gemacht, Schmiergeld genommen … du hast uns ruiniert …
Quinn hörte ihre Mutter brüllen, lauter als der Wind. Sie schluchzte.
    »Niemand kann uns ruinieren, Mommy«, sagte sie laut, und es war ihr egal, ob Allie sie hörte. Sie mussten die Sache gemeinsam durchstehen, sie alle, die Grayson-Schwestern und ihre Eltern, Tante Dana und Grandma; Quinn wusste, dass es an ihr war, alles wieder ins rechte Lot zu bringen, komme, was da wolle.
    Und so segelte sie weiter, mitten in den Sturm hinein.
     
    Der Wäscheschrank war nichts weiter als ein Wandschrank hinter zwei alten Türen, eine über der anderen, aus denselben dunklen Holzpaneelen zugeschnitten wie die übrige Wandverkleidung. Der untere Teil war mit zusätzlichen Wolldecken für die kalten Nächte, Steppdecken und Matratzenschonern gefüllt. Hinter der oberen Tür waren vier Regalbretter angebracht: Auf den beiden unteren lag ein Stapel Handtücher, auf den beiden oberen Bettwäsche. Auf Zehenspitzen stehend, die Arme hochgereckt, fand sie die Mondstein-Schatulle.
    Unschlüssig wog Dana sie in den Händen. Sie fühlte sich schwer an, und bei jeder Bewegung verrutschte der Inhalt. Das Schloss war winzig; Dana steckte den Schlüssel hinein, den sie um den Hals trug, und die Schatulle öffnete sich.
    Sie schrie auf, und Maggie machte zu ihren Füßen einen Satz. Als sie den Deckel hob, klopfte ihr Herz, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Lilys Medaillon lag vor ihr.
    Danas Finger schlossen sich um das Schmuckstück. Das Oval aus Sterlingsilber, von Hand gearbeitet und graviert, war ziemlich schwer. Das Licht im Flur, eine runde Kugellampe an der Decke, war zu dunkel. Dana ging mit der Schatulle und dem Medaillon ins Schlafzimmer ihrer Schwester, wo es heller war.
    Sie setzte sich auf die Kante des Doppelbetts. Dann betrachtete sie das Medaillon in

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