Schilf im Sommerwind
hab schon kapiert. Du versuchst, dich einzuschleimen, indem du mir vor Augen führst, dass du weißt, was ich empfinde. Alle Erwachsenen glauben das. Und, soll ich dir mal was sagen? Du hast
keinen blassen Schimmer.«
Die Sonne war im Gehölz verschwunden, aber der Himmel war erfüllt vom Abendrot. Jede Wolke schimmerte golden, das spiegelglatte Meer war in rötliches Licht getaucht. Fische – vermutlich Goldmakrelen – durchbrachen die Wasseroberfläche hinter den Wellenbrechern, und Seemöwen sammelten sich an der Stelle, kamen von überall her.
»Vermutlich hast du Recht«, sagte Sam, nachdem er mindestens eine Minute die Vögel beobachtet hatte.
»Was?« Quinn drehte sich herum, damit sie sein Gesicht sehen konnte, bemüht, den eingeschlagenen Kurs beizubehalten. Aber wie konnte man mit jemandem streiten, der so wetterwendisch war? In der einen Minute versuchte er, sich anzubiedern wie alle Erwachsenen, und dann machte er einen Rückzieher, gab klein bei.
»Ich weiß einen Scheißdreck über dein Leben.«
»Gut. Dann hätten wir das ja geklärt.« Kopfschüttelnd griff Quinn in ihre Tasche und zog zwei halb gerauchte Zigarettenkippen heraus. Sie hatte sie vorhin auf dem Plankenweg aufgelesen und bot eine Sam an – wer in Gegenwart eines Kindes fluchte, rauchte vermutlich auch.
»Nein danke, aber mach nur. Das ist der beste Weg, Krebs zu kriegen.«
Das gab Quinn zu denken, aber der Stolz zwang sie, den einen Glimmstängel in die Tasche und den anderen in den Mund zu stecken und ihn am offenen Feuer anzuzünden.
»Eines wüsste ich gerne, Ms. Grayson.«
»Was?« Sie fand es sehr schmeichelhaft, Ms. Grayson genannt zu werden.
»Warum hast du dir überhaupt die Mühe gemacht, mich zum Abendessen einzuladen, wenn du zuerst einen dramatischen Abgang inszenierst und mich dann behandelst, als sei ich der letzte Dreck?«
Quinn erstickte beinahe an dieser Frage, da sie gerade dabei war, einen Rauchkringel auszustoßen.
»Ich habe nur, ich weiß nicht, ich dachte …«
»Jetzt rede nicht um den heißen Brei herum. Für solche Spielchen habe ich keine Zeit.«
Quinn ließ die Kippe in den nassen Sand fallen und blickte auf den Sund hinaus, vorbei an den fressenden Fischen und tauchenden Vögeln, an der Glockenboje und der grünen Tonnenboje, vorbei an der Wellenlinie, die sich an den Wickland Shoals brachen, und dem Revier, in dem sie so gerne gesegelt war. Der Horizont hatte jeden Funken Wärme verloren, hatte nichts als schwarze Schatten hinterlassen. Die Sterne kamen heraus, aber sie standen hoch am Firmament, besaßen nicht genug Leuchtkraft, um sich im Meer zu spiegeln.
»Was gibt es da draußen zu sehen?«, fragte er.
»Das magische Land. Hunting Ground.«
»Land? Zwischen hier und Long Island gibt es kein Land.«
»Unter Wasser. Das Land unter Wasser.«
»Auf dem Meeresboden?«
Quinn nickte.
»Wie kann ich dir helfen?« Seine Stimme erinnerte Quinn an ihren Vater, der ihr Hilfe bei den Mathe-Hausaufgaben anbot. Sie wandte den Blick ab, damit er ihre Gedanken nicht erriet.
»Quinn?«
»Ich brauche Antworten.«
»Auf welche Fragen?«
In diesem Augenblick fiel Quinns Blick vom Feuer auf das Meer, und sie schöpfte daraus alle Kraft, die diese beiden Elemente besaßen. Eine Welle der Energie durchströmte ihren Körper, umspülte ihr Herz, und als sie sprach, war ihre Stimme klar und fest. »Ich möchte dich engagieren.«
»Mich engagieren?« Er war nahe daran zu lachen, verkniff es sich aber im letztem Moment. »Wofür?«
»Ich möchte wissen, was da unten ist.«
»Du willst eine topographische Landkarte? Wie diejenigen, die Ozeanographen benutzen?«
Quinn nickte. Sie dachte an das Sonargerät, das den Meeresgrund absuchen und dabei submarine Hügel, Gräben und Tafelberge oder deren Entsprechung im Long Island Sound orten konnte. Sie stellte sich die Schallwellen vor, die im Stande waren, Goldmakrelen-Schwärme, Wale und Meerjungfrauen auszumachen. Und das Schiffswrack ihrer Eltern zu entdecken.
»Damit kann ich dir dienen.«
»Aber ich brauche sie noch vor unserer Abreise.«
»Abreise?«
»Tante Dana hat nicht vor, hier zu bleiben. Sie behauptet zwar das Gegenteil, aber ich bin sicher, dass sie nach Frankreich zurückkehrt und uns mitnimmt.«
»Woher willst du das wissen?«
Spielte ihr die Fantasie einen Streich, oder sah Sam wirklich verdutzt, sogar aufgeregt aus?
»Weil sie nicht malt. Und nicht segelt. Das alte Boot steht immer noch im Schuppen. Wenn Tante Dana wirklich
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