Schilf im Sommerwind
Bedenken hinweggesetzt.
Sie waren ins Au Vieux Honfleur gegangen und hatten sich an einen Tisch auf der Terrasse gesetzt. Jon hatte
fruits de mer
bestellt: die Meeresfrüchte wurden auf einer Platte serviert, auf der sich Langusten, Dreieckskrabben, dicke, fleischige Krebse namens
torteaux,
Muscheln, Meeresschnecken und vier verschiedene Austernarten häuften. Nach der ersten Flasche Gewürztraminer bestellte sie eine zweite. Dana skizzierte die Schale einer halbierten Zitrone. Jon zeichnete die Austern auf Eis. Sie begann, ihn beim Skizzieren der Austern zu zeichnen, und plötzlich kam er um den Tisch herum und küsste sie.
Auf dem Rückweg gingen sie in ihr Atelier. Sie zeigte ihm ihre Bilder, er half ihr aus den Kleidern. Sie legten sich auf die kleine Chaiselongue in der Ecke, wo sie an langen Arbeitstagen ausruhte und die Meerjungfrauen anrief – die Musen, die sich tief in ihrem Unbewussten eingenistet hatten, um ihr dabei zu helfen, die nötige Inspiration zur Beendigung eines Werkes zu finden –, und liebten sich.
Ihr Atelier wurde sein Atelier. Er war erpicht darauf, von ihr zu lernen – im Bett und in der Kunst. Eine Woche später zog er bei ihr ein, schleppte seine Habe aus der Pension an, in der er gewohnt hatte. Sie waren verliebt bis über beide Ohren. Jon entfesselte Leidenschaften in Dana, von deren Existenz sie nicht das Geringste geahnt hatte. Die Meerjungfrauen wurden uninteressant. Wer brauchte schon Musen an der Seite eines Jonathan Hull? Die Liebesbeziehung mit einem jüngeren Partner wurde völlig unterbewertet. Welcher Mann ihres eigenen Alters verfügte schon über die Energie, den Einfallsreichtum und die Romantik, die sie mit einer solch unbändigen Lust am Leben erfüllte?
»Woran denkst du?«, fragte Marnie.
»Dass sich die Beziehung zu einem jungen Mann letztendlich nicht lohnt. Sie war der größte Fehler meines Lebens«, erwiderte Dana.
Sie erinnerte sich an den Morgen, als Jon ihr mitgeteilt hatte, Quinn habe angerufen. Dana hatte zurückgerufen; im Morgenmantel, den Hörer in der Hand, hatte sie hilflos mit angehört, wie Quinn ohne Unterlass weinte.
Jon hatte sie von der Türschwelle aus beobachtet. Er hatte sie in die Arme genommen und versucht, sie zu trösten. Als er merkte, dass sie nicht loslassen konnte, hatte er einen Rückzieher gemacht und gesagt, dass er eine Verschnaufpause brauche. Er hatte gemeint, Distanz würde beiden gut tun – er sei sich darüber im Klaren, dass er sie mit seinen Ermahnungen, zu lächeln, darüber hinwegzukommen, wahnsinnig mache. Dann hatte er seine Staffelei in den Wagen gepackt und war nach Étretat zum Malen gefahren.
Dana hatte gewusst, dass ihrer Beziehung keine lange Dauer beschieden war. Die Unterschiede zwischen ihnen waren zu offenkundig, um sie zu übersehen. Das Ende war mit einer nachhaltigen Identitätskrise einhergegangen. Dana war den größten Teil ihres Lebens emotional unabhängig gewesen, hatte tiefere Beziehungen der Kunst wegen gemieden. Doch nun hätte sie jemanden gebraucht, der ihr half, Lilys Tod zu verkraften und sie nicht nur in guten, sondern auch in schlechten Tagen zu lieben; diesen Anforderungen würde Jon niemals gewachsen sein, das war ihr inzwischen klar geworden.
Kurz nach diesem Tag hatte er sich vermutlich mit Monique getroffen. Sie hatte die beiden drei Wochen später auf der Chaiselongue überrascht, nackt, jung und schön, und obwohl sie gedacht hatte, ihr würde das Herz brechen, war der Schmerz nichts im Vergleich zu dem, was sie nach Lilys Tod empfunden hatte.
»Heißt das, dass du ihn mit Sam vergleichst?«
»Zwischen Sam und mir ist nichts.«
»Für eine Malerin bist du ziemlich blind. Sogar ich konnte sehen –«
»Marnie, ich sehe alles, was ich sehen muss«, entgegnete Dana hastig. »Mach dir meinetwegen keine Sorgen, okay?«
»Und was gibt’s da unten am Strand zu sehen?« Marnie hatte bemerkt, dass Dana Position am Fenster bezogen hatte, und beschlossen, das Thema Sam fürs Erste fallen zu lassen.
»Quinn sitzt wieder auf ihrem Felsen.« Dana deutete auf den winzigen dunklen Fleck des Strandes, den größten Granitfelsblock am Little Beach.
»Sie hält Wache.«
Dana antwortete nicht.
»Martha hat meiner Mutter erzählt, dass sie das schon ein ganzes Jahr lang macht – sogar im Winter. Sie beobachtet die Stelle, an der sie untergegangen sind; vielleicht hofft sie, dass sie irgendwie wieder auftauchen.«
Quinn, dachte Dana und betrachtete stumm den schwarzen Punkt auf
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