Schillerhoehe
sah er Ärger auf sich zukommen. Mög licherweise musste er den anonymen Unterstellungen energisch entgegentreten und sie als Rufmordkampagne darstellen. Zorn, sein Golfpartner, würde ihn bestimmt unterstützen. Er nahm den braunen Briefumschlag, um das Erpresserschreiben wieder hineinzustecken und das Ganze zu zerschreddern. Aber halt, was war das? In dem Umschlag steckten Fotografien. Er holte sie her aus und errötete beim Anblick: Er und Gianna lagen auf einem Bett, in eindeutiger Stellung. Darunter das Datum in hässlicher roter Leuchtschrift eingeblendet: DI 27.08 11.05 PM. Er überlegte, was er um diese Zeit getan hatte, dann kam er zu dem Schluss: Das bin ich, am Dienstag nach der nicht öffentlichen Gemeinde ratssitzung über die Zukunft des Marbacher Energie und Technologieparks.
Eine Falle, in die er getappt war. Hatte Gianna das alles arrangiert? Immerhin war es ihr Hotel, sie musste doch Bescheid wissen über mögliche Videospielchen. Aber genauso gut konnte jemand aus der Schar der Angestellten Wind von ihrem Verhältnis bekommen haben und versuchen, daraus Profit zu schlagen.
»Schöner Mist«, murmelte der Bürgermeister. Ihm
war klar, dass er dem Erpresser völlig ausgeliefert war. Der Diebstahl der TellHandschrift würde vermutlich erst der Anfang einer ganzen Serie von Dienstbarkeiten sein, die er bedingungslos zu erfüllen hatte. Rieker war noch nie erpresst worden, aber ein Dauerzustand konnte das natürlich nicht sein. Am besten, er würde zu Paula gehen, ihr alles beichten und in der Presse in die Offen sive gehen. Ein Sexskandal ein Jahr vor der Wahl könnte ihn politisch erledigen, überlegte er wenig später. Viel leicht war es ratsam, Zeit zu gewinnen, um den Erpres ser nach und nach auf eigene Faust zu ermitteln.
Plötzlich klingelte das Telefon. Er nahm ab.
»Rieker«
Ein unangenehmes Kratzgeräusch ließ ihn den Hörer vom Ohr wegnehmen.
»Na, hast du den Brief gelesen?« Die Stimme klang hell und gehetzt, fast verzerrt. Er konnte sie nieman dem zuordnen.
»Ja, hab ich.« Rieker schluckte.
»Gut, dann tu, was ich dir sage.«
Der Bürgermeister schwieg. Er spürte, wie er aus allen Poren schwitzte.
»Hats dir die Sprache verschlagen, Schultes?«
»Was wollen Sie?«
»Hol mir den Tell, und du bist frei.«
»Warum sollte ich Ihnen trauen? Sie wollen mich doch nur noch weiter erpressen.«
»Nein, werde ich nicht. Ich will nur den Tell, gib ihn mir, und alles ist vergessen.«
Rieker hörte im Hintergrund Verkehr, sein Gesprächs partner mochte von einer Telefonzelle aus anrufen.
»Wie kann ich sichergehen, dass danach Schluss ist?«
»Schluss ist Schluss – du hast bis Sonntagabend Zeit. Ich weiß, dass du es schaffst.«
Ein Klicken in der Leitung beendete das Gespräch.
Das Stadtoberhaupt überlegte. Mit wem hatte er es zu tun? Mit einem spleenigen Sammler, der nur durch Zufall an die Aufnahmen gekommen war und sich jetzt einen abgedrehten Traum erfüllen wollte oder etwa einer Bande, die ihn zum Werkzeug eines Kulturdieb stahls machte? Es wäre wohl genauso wenig erstrebens wert, mit der Schlagzeile ›Bürgermeister plündert Schil lermuseum‹ in den Gazetten aufzutauchen – man würde ihn schlichtweg einsperren. Die Sache mit Gianna war ein moralisches Problem, der Diebstahl dagegen ein kri mineller Akt. Auf keinen Fall durfte er sich an Hand schriften der Schillerhöhe vergreifen.
Der Bürgermeister beschloss, sich am nächsten Tag um die Sache zu kümmern. Er musste sich auf den Kreisparteitag heute Abend vorbereiten. Dort durfte er als Gastgeber ein Grußwort sprechen. Na, die sollten sich wundern. Statt allgemeines Blabla über Marbach zu murmeln, würde er ihnen reinen Wein über Steinhorsts Mauscheleien einschenken. Sollte die Presse ruhig mit schreiben. Diesem Steinhorst gehörten gründlich die Leviten gelesen. Und vielleicht würden sie ja bei der FPU endlich erkennen, dass er der richtige Mann für Berlin war. Schließlich hatte er bei der Wahl zum Stutt garter Regionalparlament vor zwei Jahren ein ordent liches Ergebnis erzielt.
Melanie Förster genoss ihr freies Wochenende. Die junge Kommissarin saß mit ihrer Lebensgefährtin Katja beim Brunch im Blauen Engel in Ludwigsburg. Genüsslich schlürfte sie an ihrem Latte macchiato. Das erste Sudoku in ihrem Rätselheft hatte sie in fünf Minu ten gelöst. Katja, promovierte Biologin,
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