Schimmer der Vergangenheit (German Edition)
Brot, das es dazu gab, erschien mir dagegen geradezu wie eine Delikatesse.
Ich machte mir Gedanken darüber, was Anna wohl an meiner Sprache auszusetzen haben könnte. Wir besprachen uns miteinander und Barbara meinte, es läge vielleicht an der Form. Wir sagten gewöhnlich: Kommen Sie bald wieder? Aber Anna hätte gesagt: Kommt Ihr bald wieder. Aha, dachte ich, das ist es. In Annas Ohren hatte es sich so angehört, als ob ich sie doppelt sehe oder als hätte ich mehrere Personen erwartet. Wir mussten also von anderen Menschen in der dritten Person sprechen, es sei denn, wir duzten sie, aber dann hieß es direkt „du“. Wir wollten versuchen in Zukunft daran zu denken, um nicht noch mehr aufzufallen.
Nach endlosen Stunden, die wir damit verbrachten, uns eine glaubhafte Geschichte auszudenken, erschien Anna endlich.
Ich umarmte sie freudig und registrierte, dass sie sich ebenso freute, uns wieder zu sehen. Sie brachte einen Kamm mit und einen kleinen Handspiegel. Dankbar nahm Barbara die Gegenstände entgegen. Anna stellte einen Weidenkorb ab und schlug das darüber liegende Tuch zurück. Zum Vorschein kamen Käse, Hartwurst, ein kleiner Laib Brot und ein paar Äpfel.
„Solltet Ihr noch etwas benötigen, so sagt es“, bot sie freundlich an.
Ich war sprachlos. Anna hob abwehrend die Hände, als wir sie schließlich mit Dankesbezeugungen überschütteten.
„Das Essen hier ist eine Schande. Ich bringe meinen Patienten immer etwas aus meiner eigenen Küche“, sagte sie leise und bescheiden, als wolle sie sich für ihre Mildtätigkeit entschuldigen.
„Wird Euch das nicht auf die Dauer zu viel?“, fragte ich erstaunt.
Sie schüttelte den Kopf.
„Nein. Im Moment sind nicht viele Verletzte im Haus, und außerdem ist dies nur mein Teil, den ich monatlich für diese Einrichtung gebe. Es wird gänzlichst von Almosen und Spenden getragen, müsst Ihr wissen. Wir haben heuer an die hundertundfünfzig Zöglinge, die allein nicht weiterwüssten. Wir vermitteln die Waisenkinder an Familien und verdingen die Älteren an die Handwerksleut. Fremden und Bettlern ohne einen Pfennig wird Wegegeld gezahlt, damit sie in der Lage sind, die Stadt zu verlassen.“
Beeindruckend. Mit solch modernen Einrichtungen hatte ich nicht gerechnet, zumal das Benehmen des Aufsehers und der Zustand der Quarantänezelle nichts Fortschrittliches oder Modernes an sich hatten. Das alles passte eher in meine Vorstellungen dieser Epoche, in der mir nur Bettler und kranke Menschen in den Sinn kamen, die einsam am Straßenrand vegetieren und denen niemand hilft. Doch ich war froh, dass dieses Bild sich als falsch erwies.
„Das ist ja eine fantastische Einrichtung“, sagte ich.
„Ja, so ist es. Indes gibt es viele, die es abschaffen wollen. Man unterstütze die Untätigen und verleite zu Müßiggang. Doch bin ich ganz anderer Meinung.“
Energisch schüttelte sie den Kopf, und ihr dunkles Haar schwang locker um ihre Schultern. Sie wirkte in diesem Moment nicht älter als siebzehn.
„Niemand ist gern arm, meint Ihr nicht auch?“, fragte sie, und ich brauchte eine Sekunde, um mich von dem Bild zu lösen, das sich mir bot.
Das Sonnenlicht fiel durch das Fenster schräg in den Raum, und winzige Staubpartikel tanzten darin. Das Licht umhüllte Annas Antlitz mit einer gespenstisch leuchtenden Aura, und man hatte keine Mühe, sie einem längst vergangenen Jahrhundert zuzuordnen.
„Nein, nein“, sagte ich, „Ihr seht das genau richtig. Ich meine, wer würde sich sonst um diese Menschen kümmern? Sie würden bettelnd auf der Straße leben, und das ist doch sicher ebenso unerwünscht.“
„Ihr seid eine ungewöhnliche und kluge Frau“, sagte Barbara bewundernd und blickte Anna dabei in die Augen. Sie errötete, erhob sich und wandte sich zum Gehen.
„Dürfen wir morgen wieder mit Euch rechnen?“, fragte ich hoffnungsvoll.
Sie nickte.
„Ich glaube, man wird Euch nicht mehr lange festhalten. Eure Haut ist beinahe makellos, und Ihr seid bei guten Kräften.“
Anstatt mich über diese Nachricht zu freuen, stieg Panik in mir hoch. Was sollten wir dann tun? Würde man uns auch Wegegeld geben und uns aus der Stadt jagen? Wie sollten wir wieder in unsere Zeit zurückkehren? Anna schien die Besorgnis in unseren blassen Gesichtern zu erkennen.
„Wir sprechen morgen darüber, ich muss jetzt leider gehen.“
Ihr zartgrünes Kleid, das sehr edel und teuer wirkte, raschelte leise, als sie sich der Tür zuwandte. Sie klopfte dreimal, und es wurde
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