Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)
eine weitere Kurznachricht nachzuschieben: ›Erinnerst du dich, dass du an anderen Orten sehr schnell sehr alt wirst?‹ Wesleys Empfänglichkeit für Pathos ist relativ hoch. Trotzdem zögere ich. In den letzten Jahren habe ich nie den pathetischen Part übernommen, auch in keinem anderen Sozialkontakt. Sollte ich jetzt plötzlich damit anfangen, könnte Wesley das Gefühl bekommen, dass mich dieses neue CobyCounty mit den verunglückenden Hochbahnen stark transformiert. Und er könnte daraus ableiten, dass er richtig damit lag, seine Heimat zu verlassen. Also schiebe ich das Handy in meine Hosentasche zurück und blicke über die Sitzlehnen hinweg nach vorn.
Am nächsten Morgen, als ich zu meinem Erstaunen ohne jeden Kopfschmerz auf meiner ein Meter vierzig breiten Matratze aufwache, nehme ich mir vor, Carla zu ihrem fünfundzwanzigsten Geburtstag ein Keyboard zu schenken, trotz allem.
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Bevor ich die School of Arts and Economics besuchte, glaubte ich, dass mich die schlimmste Lebensphase zwischen siebenunddreißig und achtundvierzig erwartet. In diesen Jahren muss man schon etwas erreicht haben, aber man hat auch noch sehr viel Stress vor sich. Man sieht nicht mehr gut genug aus, um richtig im Fokus zu stehen, und wenn man noch keine Kinder hat, ist es zwar dafür noch nicht zu spät, aber es herrscht bereits Entscheidungsdruck. Ich habe das Alter vierzig als erbarmungslos eingestuft und mir die Frage gestellt, ob man überhaupt schadlos in dieses Alter hineinwachsen kann. Doch an der School of Arts and Economics hatte ich dann mehrere Dozenten, die um die vierzig waren, und die erinnerten mich auf eine eher angenehme Weise an mich selbst. Nur hatten sie schon mehr gelesen und konnten besser darüber sprechen. Auch waren sie mit ihrer Selbstironie schon ein wenig weiter, also auch mit ihrer Eitelkeit, sie wussten beides routinierter für sich einzusetzen, und das hat mir die Angst vor diesem Alter ein wenig genommen. Heute glaube ich, dass ich mit einem guten Gefühl auf meine späten Dreißiger und frühen Vierziger zugehen kann. Im Grunde könnte man in CobyCounty ja auch bis fünfundvierzig oder sogar bis neunundvierzig noch so weiterleben wie mit neunzehn oder mit sechsundzwanzig.
Ich wurde insgeheim politisch erzogen. Beispielsweise nickte meine Mutter, als ich dreizehn war, im Industriegebiet in Richtung einer Tiefgarage und sagte: »Schau da vorn: So wirst auch du bald herumsitzen.« Dort saßen Mädchen und Jungs, nicht älter als siebzehn, in erdfarbenen Baumwolloberteilen und lehnten sich ans Garagentor. Es war schon Herbst und man hielt sich für gewöhnlich nicht mehr draußen auf den Bordsteinkanten auf, höchstens noch vor Cafés unter Wolldecken, die mit dem Logo des Cafés bedruckt waren. Doch diese Jugendlichen saßen weiter draußen auf der Straße, weil sie gerne darauf hinweisen wollten, dass sie auch noch draußen herumsitzen konnten, wenn das sonst schon keiner mehr tat. Niemand ist jemals gegen sie vorgegangen, sie durften bleiben, so lange sie wollten, und so saßen sie teils bis in die Starkregentage hinein unter den Vordächern einschlägiger Tiefgaragen. Und auch wenn ich dort selbst nie herumgesessen habe, weil ich diese Geste schon früh für zu durchschaubar hielt, kannte ich doch diejenigen, die dort saßen, zumindest vom Sehen. Und später, an der School of Arts and Economics, erkannte ich sie wieder, obwohl sie dann keine erdfarbenen Baumwolloberteile mehr trugen, sondern sich größtenteils recht eitel ausstaffierten. Wahrscheinlich besteht ein Zusammenhang zwischen der Absicht, Menschen darauf hinzuweisen, dass man auch bei kühleren Temperaturen noch draußen sitzen kann, und dem Impuls, Kunst herzustellen. Denn beides ist ja eine Form von Angeberei. Aber das wussten diese Leute natürlich selbst, und deshalb gab es daran auch nie etwas zu kritisieren. Und so sind viele von ihnen im Laufe der Zeit auch zu Freunden von mir geworden oder zumindest zu guten Hochschulbekanntschaften. Im Nachhinein habe ich es manchmal bereut, nie vor einer dieser Garagen gesessen zu haben.
Am Abend des dritten März treffe ich ehemalige Mitschüler im Hotelturm. Dieses Treffen am Tag vor Frühlingseinbruch findet nun schon das vierte Jahr in Folge statt. Tom O’Brian stellt für unser Treffen einen Konferenzraum im achten Stockwerk und ein Buffet mit Linsensuppe zur Verfügung. Linsensuppe: das ist so ein Running Gag zwischen den Mitschülern und mir. Als ich achtzehn wurde, fand ein Fest
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