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Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition)

Titel: Schimmernder Dunst über CobyCounty (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leif Randt
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zurücklächelt, bin ich doch nicht mehr sicher, ob die Aussage ihr voller Ernst war.
    Mit dem bald leeren Glas in der Hand fällt mir ein, dass ich seit dem Frühstück noch gar nichts gegessen habe, nicht mal einen der Kekse aus Mattis’ nussbrauner Schale. Die über dreißigjährige Annabelle scheint mir das anzusehen. Während die Band ihre zweite Zugabe spielt, fragt sie, ob wir kurz etwas essen gehen sollen: »Es gibt einen Laden um die Ecke, der macht fantastische French Toasts.«
    Natürlich schaffen wir es dann gar nicht bis zu den fantastischen Toasts, sondern lehnen uns in einer schmalen Gasse an eine Backsteinfassade und fangen an, uns mit offenen Mündern zu küssen. Diese blond gelockte Annabelle scheut kein Risiko und packt mich an den Schultern. Ihr Atem ist sofort deutlich zu hören und sie wirkt nun tatsächlich wie jemand, der schon einmal sehr lange hat warten müssen. Ich rede mir ein, dass ich nur wegen des Versprechens auf ein French Toast den Musikclub verlassen habe und dass ich jetzt, mit dem Rücken an rotem Backstein lehnend, überwältigt wurde. Ich überlege, in welchen Zeitabständen nun wohl noch der doppelstöckige Bus zurück ins Stadtzentrum fährt. Annabelle scheint überhaupt nichts mehr zu überlegen. Weil ich die ganze Zeit meine Augen offen lasse, sehe ich die Falten um ihre geschlossenen Lider. Ich denke halb beleidigende Sachen, zum Beispiel: ›Du bist schon eine Frau und kein Mädchen mehr.‹ Einmal greife ich testweise an ihren Po und rechne mit dem Schlimmsten, doch dann bin ich relativ positiv überrascht. Annabelle setzt ihre Zunge sehr intensiv ein, ich kriege nasse Lippen, aber da ich ja betrunken bin, ekelt mich das eigentlich nicht. So dauert es einige Minuten, bis ich mich abrupt von ihr löse und sage, dass sie Mattis noch grüßen soll, denn ich müsste jetzt gehen. Annabelle will mir das erst nicht glauben. Sie legt ihren Kopf mädchenhaft schräg, was überhaupt nicht funktioniert, und dann fällt es mir leicht, tatsächlich zu gehen. »Soll ich dir meine Nummer geben?« , fragt sie noch, und dann halte ich sie endgültig für tragisch und würdelos und sage: »Nein. Ich komme selten so weit raus aus CobyCounty.« Zuletzt winke ich, fast freundlich, und gehe geradeaus, ohne mich noch einmal umzudrehen.
    An der Bushaltestelle ist mein vorletzter Gedanke, dass diese dumpf leidenschaftliche Annabelle dort unten in dem suburbanen Musikclub heute vermutlich keinen Typen wie mich mehr finden wird, also definitiv keinen Typen aus dem Herzen CobyCountys. Kurz frage ich mich, ob ich ein schlechtes Gewissen bekäme, wenn ihr auf dem Rückweg in den Club etwas zustoßen würde. Ich versuche mir vorzustellen, was ihr passieren könnte. Nicht so schlimm fände ich es zum Beispiel, wenn sie jemand mit der flachen Hand schlagen und ihr etwas Geld entwenden würde. In gewisser Weise gönne ich das dieser Annabelle und ihrer stümperhaften Leidenschaft sogar: so einen flachen, relativ harmlosen Schlag ins Gesicht.
    Aber mein letzter Gedanke ist, dass ich nicht leugnen kann, dass so eine tragische, ältere Frau aus dem Vorort eine gewisse Anziehung auf mich ausübt, zumindest wenn ich angetrunken bin. Ich überlege, ob manche Orte und Menschen einen vielleicht nur anziehen, weil sie total anders sind. Man weiß zwar, dass es kein gemeinsames Fundament mit diesen Orten und Menschen gibt, also auch keine Zukunft, trotzdem will man sie nicht verpassen, denn attraktiv sind sie ja irgendwie doch. ›Schlüpfrige One-Night-Stands‹ und ›kostspielige Wochenendausflüge‹ sind möglicherweise sinnvolle Kompromisse im Umgang mit diesen irrationalen Sehnsüchten. Dementsprechend könnten ›Affären während Wochenendausflügen‹ eine Art Optimum darstellen. Vielleicht wusste Wesley also doch ziemlich genau, was er tat, wenn er in den Sommermonaten verreiste und immer bald wiederkam.
    Im leeren Bus wird mir schwindlig. Ich sitze in der letzten Reihe, fokussiere mein Handy und tippe eine Textnachricht: ›Hey Mattis, ich musste meinen Bus nehmen. Ich habe zu wenig gegessen. Der Abend hat Spaß gemacht. Wir mailen. Wim.‹
    Im Laufe der Fahrt frage ich mich, ob es vielleicht an meinem Telefon liegt, dass ich keine SMS mehr erhalte. Mattis antwortet meist sofort. Aber dass Wesley nach meiner E-Mail auch meine Kurznachricht nicht beantwortet, ist eigentlich keine Überraschung. Typisch wäre jedoch, dass er unvermittelt anruft, von einem Flughafen oder aus einem Zug. Ich überlege,

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