Schindlers Liste
berichten übereinstimmend, daß der letzte Tag und die letzte Nacht chaotisch waren, im Mittelpunkt Goldberg, der sich immer neue und immer höhere Angebote machen ließ.
Dr. Idek Schindel bat Goldberg, ihn und seine jüngeren Brüder für den Transport nach Brünnlitz vorzumerken. Goldberg wollte sich nicht festlegen, und erst am Abend des 15.Oktober, als die männlichen Häftlinge für den Transport aufgestellt wurden, erfuhr er, daß er und seine Brüder nicht mitfahren sollten. Sie drängten sich trotzdem unter die Schindlerjuden.
Es war wie auf einer alten Darstellung des Jüngsten Gerichts — diejenigen, denen das Zeichen fehlt, drängten sich unter die Gerechten und werden von einem Racheengel zurückgewiesen, in diesem Fall von Oberscharführer Müller. Er schlug Dr. Schindel mehrmals mit der Reitpeitsche ins Gesicht und frage ihn dabei ganz freundlich: »Warum willst du ausgerechnet bei diesem Transport mitfahren?«
So blieb der Arzt denn bei dem kleinen Arbeitskommando, das Plaszow endgültig auflöste und anschließend mit kranken weiblichen Häftlingen nach Auschwitz gebracht wurde. Die Männer des Arbeitskommandos wurden irgendwo im Lager Birkenau in einer Baracke einquartiert und sich selber überlassen. Die meisten kamen mit dem Leben davon. Schindel selbst wurde mit seinen Brüdern zunächst nach Flossenbürg verlegt, und alle drei nahmen später an einem Todesmarsch teil, bei dem der Jüngste einen Tag vor Kriegsende erschossen wurde. Man kann sich also vorstellen, wie sehr der Gedanke an die Liste auch heute noch die Überlebenden bewegt, und daß sie im Oktober 1944 an nichts anderes denken konnten; das war wirklich nicht Schindler zuzuschreiben, sondern eher der Bosheit von Goldberg.
So haben alle ihre ganz eigene Erinnerung an die Liste. Henry Rosner war den Schindlerjuden zugeteilt worden, doch ein Unterführer bemerkte seine Geige, und weil er wußte, daß Göth seine Hofmusiker brauchen würde, sollte er je wiederkommen, schickte er Rosner zurück. Der nun verbarg seine Geige unter dem Mantel, stellte sich wieder an und gelangte so in den Zug.
Rosner gehörte zu denen, die Schindler von vornherein zur Rettung vorgesehen hatte, stand also von Anfang an auf der Liste. Und das gleiche galt für Jereths, den alten Mann aus der Kistenfabrik, und seine Frau Chaja, jetzt zur Metallarbeiterin befördert. Auch Perlmanns standen drauf, alte Häftlinge aus dem Nebenlager Emalia, und ebenso Levartovs. Tatsächlich bekam Schindler im wesentlichen die Leute, die er haben wollte, trotz Goldbergs Machenschaften, wenngleich er Überraschungen erlebte, zum Beispiel, daß auch Goldberg mitkam. Aber als Mann, der die Welt kannte, dürfte er das mit Fassung getragen haben.
Es gab aber auch willkommenere Neuzugänge, etwa Poldek Pfefferberg, den Goldberg abgewiesen hatte, weil er nicht mit Diamanten bezahlen konnte. Der tauschte Kleider und Brot gegen eine Flasche Wodka und brachte diese zu Schreiber, der gerade Dienst hatte. Er bat ihn, Goldberg zu zwingen, ihn und Mila auf die Liste zu setzen. »Schindler selber würde uns anfordern, wenn er wüßte, daß wir nicht drauf stehen«, beteuerte er, denn ihm war klar, daß es hier ums nackte Leben ging. »Da hast du recht«, stimmte Schreiber zu, »ihr beide müßt mit.« Unerklärlich, warum Menschen wie Schreiber sich bei solchen Gelegenheiten nicht fragten: Wenn dieser Mann und seine Frau verdienen, am Leben zu bleiben, warum dann nicht auch die anderen?
Also fanden sich Pfefferbergs im richtigen Moment in der richtigen Schlange, und zu ihrer Überraschung auch Helene Hirsch samt ihrer jüngeren Schwester, um die sie mehr gezittert hatte als um sich selber.
Sonntag, den 15. Oktober wurden die Männer in Plaszow verladen. Die Frauen mußten noch eine ganze Woche warten. Außer den 800 für Schindler bestimmten Männern wurden gleichzeitig 1300 andere Häftlinge nach Groß-Rosen gebracht. Manche von Schindlers Leuten fürchteten, man werde das Lager Groß-Rosen auch noch passieren müssen, doch die meisten glaubten, direkt nach Brünnlitz zu kommen. Man bereitete sich auf eine Fahrt mit langen Aufenthalten auf Abstellgleisen vor; es war kalt geworden und hatte bereits geschneit. Jedem Häftling wurden 300 Gramm Brot zugeteilt, und in jedem Waggon stand ein Eimer voll Wasser. Uriniert und defäkiert wurde möglichst in einer Ecke des Waggons, falls die Insassen zu dicht gedrängt standen, an Ort und Stelle. Aber das schien alles erträglich bei dem Gedanken,
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