Schindlers Liste
hätten.
Abgesehen von der Übernahme der Auschwitzer Frauen, war das Erstaunlichste die Rettung der Goleszower. Goleszow gehörte zu Auschwitz III und bestand aus einem Steinbruch und einer Zementfabrik der SS-eigenen Deutschen Erd-und Steinwerke GmbH. Wie schon erwähnt, wurde im Januar 1945 Auschwitz samt seinen Nebenlagern liquidiert, und Mitte des Monats verlud man 12,0 Häftlinge aus dem Steinbruch Goleszow auf zwei Viehwagen, ein Transport, so fürchterlich wie alle, aber er fand ein erfreuliches Ende.
Man muß sich klarmachen, daß in jenem Monat fast alle Auschwitzhäftlinge unterwegs waren. Dolek Horowitz wurde nach Mauthausen geschickt, der kleine Richard jedoch mit anderen Kindern zurückbehalten. Die Russen fanden sie später in einem von der SS verlassenen Auschwitz und behaupteten durchaus zutreffend, daß die zurückgebliebenen Kinder für Experimente vorgesehen waren. Henry Rosner und der neunjährige Olek (der offenbar für Experimentierzwecke nicht mehr benötigt wurde) marschierten in einer Kolonne etwa fünfzig Kilometer weit, und wer zurückblieb, wurde erschossen. In Sosnowiec verlud man sie in Viehwagen. Als besonderen Gunstbeweis ließ ein SS-Mann, der eigentlich die Kinder getrennt einladen sollte, Olek bei seinem Vater. Im Waggon war es so eng, daß man nur stehen konnte, doch bald schon starben die ersten an Hunger und Durst, und jemand kam auf den Einfall, die Toten in ihren Decken an Haken zu hängen, die unter dem Dach des Waggons befestigt waren.
So hatten die Lebenden mehr Platz am Boden. Rosner fand, daß Olek es, nach Art der Leichen in einer Decke baumelnd, gewiß bequemer hätte. So hatte er nicht nur eine weniger anstrengende Reise, er konnte durch die Ventilationsklappen auch Leute anrufen, wenn der Zug stand, und sie bitten, Schneebälle in den Waggon zu werfen. Der Schnee wurde gierig aufgeleckt, denn zu trinken gab es nichts. Nach sieben Tagen erreichten sie Dachau; nur die Hälfte jener, die mit Rosner im Waggon gewesen waren, überlebte. Als man die Waggontüre aufschob, fiel eine Leiche heraus, dann kam Olek, brach einen Eiszapfen vom Waggon und leckte gierig daran. So sahen die Häftlingstransporte im Januar 1945 aus.
Die Steinbrucharbeiter aus Goleszow hatten es noch schlimmer. Den von Jad Wa-Schem aufbewahrten Ladepapieren ist zu entnehmen, daß sie ohne Lebensmittel zehn Tage lang in zwei Waggons unterwegs waren, deren Türen festfroren. Sie kratzten das Eis von den Wänden, um ihren Durst zu stillen. Auch in Birkenau ließ man sie nicht raus. Dort wurden gerade mit größter Hast die letzten Massenmorde verübt, und man hatte keine Zeit für sie.
Ihre Fahrt ging weiter, stockend, immer wieder auf Abstellgleise geschoben. Man brachte sie zu Lagern, deren Kommandanten sich weigerten, sie aufzunehmen, weil sie als Arbeitskräfte unterdessen wertlos geworden waren und weil ohnehin alles überbelegt war. An einem frühen Januarmorgen wurden sie auf dem Güterbahnhof Zwittau abgekoppelt. Man benachrichtigte Schindler davon, daß zwei Viehwaggons eingetroffen seien, in denen sich offenbar Menschen befänden. Man höre Stöhnen und Rufe in allen möglichen Sprachen, slowenisch, polnisch, tschechisch, deutsch, französisch, ungarisch, niederländisch und serbisch. Schindler sagte, man möge die beiden Waggons ins Lager weiterleiten.
An diesem Morgen lag die Temperatur bei dreißig Grad unter Null, wie Stern sich erinnert, und der pedantische Biberstein gibt sie mit wenigstens minus zwanzig Grad an. Pfefferberg wurde geweckt, holte sein Schweißgerät und schmolz die Waggontür auf. Auch er hörte das unmenschliche Stöhnen. Man kann schwer den Anblick beschreiben, der sich bot, als die Türen geöffnet wurden. In der Wagenmitte lagen aufgeschichtet Leichen mit verrenkten Gliedern. Die etwa hundert Überlebenden stanken grauenhaft, hatten schwere Erfrierungen, waren nur noch Skelette. Keiner wog, wie sich herausstellte, mehr als siebzig Pfund.
Schindler stand nicht am Gleis, sondern organisierte in der Werkhalle einen Platz für die Ankömmlinge. Die letzten Hoffmannschen Maschinen wurden herausgetragen. Man schüttete Stroh auf. Schindler hatte bereits mit Leipold gesprochen; der wollte die Häftlinge nicht aufnehmen, er unterschied sich darin nicht von all den Lagerkommandanten, die sie bereits abgewiesen hatten. Niemand,so sagte der Untersturmführer mit Betonung, könne behaupten, es handle sich um Munitionsarbeiter. Schindler stimmte ihm zu, sagte aber sogleich, er
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