Schindlers Liste
arbeiteten, wo niemand geschlagen wurde, wo es keine Kapos gab.« Das ist insofern übertrieben, als in Brünnlitz Männer und Frauen durchaus getrennt gehalten wurden, und Schindlers blonde SS-Aufseherin verteilte auch Ohrfeigen. Und ein Junge, der eine Kartoffel gestohlen hatte, wurde von Leipold mit der Kartoffel im Mund einen ganzen Tag lang in den Hof gestellt mit einem Schild um den Hals: ICH BIN EIN KARTOFFELDIEB. Aber Henigman findet das nicht erwähnenswert. »Wie kann man den Übertritt von der Hölle ins Paradies zulänglich beschreiben?« fragt er. Schindler befahl ihm, sich erst mal aufzupäppeln und auszuruhen. »Sagen Sie Bescheid, wenn Sie sich arbeitsfähig fühlen.« Das war für Henigman, wie sich denken läßt, ein umwerfender Eindruck.
Da dreißig Schlosser gemessen an 10 000 nun wirklich nur ein winziger Bruchteil sind, muß man noch einmal betonen, daß Schindler nur ein kleiner Erlöser war. Und er rettete Goldberg und Helene Hirsch ebenso wie Dr. Leon Gross und Olek Rosner. Und ohne Ansehen der Person handelte er auch mit der Gestapo von Mähren um weitere jüdische Häftlinge, darunter einen gewissen Benjamin Wrozlawski, ehedem Insasse des Arbeitslagers Gleiwitz. Dies war ein Nebenlager von Auschwitz. Als Konjew und Schukow am 12. Januar zur Offensive antraten, drohte der Herrschaftsbereich von Rudolf Höß überrannt zu werden. Die Häftlinge aus Gleiwitz wurden per Bahn Richtung Fernwald abtransportiert. Auf dem Transport gelang es Wrozlawski und seinem Freund Wilner zu fliehen, wobei Wilner verletzt wurde. Sie schlugen sich Richtung Mähren durch, wurden aber erwischt und von der Gestapo in Troppau festgesetzt. Kaum hatte man sie in eine Zelle gebracht, wurde ihnen von einem Gestapobeamten eröffnet, daß sie nichts zu befürchten hätten, was sie selbstverständlich nicht glaubten. Der Beamte sagte, Wilner komme nicht ins Krankenrevier, trotz seiner Verletzung, denn von dort geriete er nur wieder in die Mühle.
Sie sollten sich als in Schutzhaft befindlich betrachten. So verbrachten sie zwei Wochen, während derer der Kontakt zu Schindler aufgenommen und ein Preis für die Flüchtlinge ausgehandelt wurde. Dann brachte ein SS-Mann sie zum Bahnhof, und sie fuhren nach Brunn. Die Einlieferung ins Lager Brünnlitz empfanden sie etwa ebenso wie Henigman. Wilner wurde von den Ärzten sogleich behandelt, Wrozlawski kam in die Abteilung für Genesende, die in einer Ecke der Werkhalle eingerichtet worden war, weshalb, wird man gleich erfahren. Der Direktor erkundigte sich persönlich nach ihrem Befinden. Das alles war unheimlich, ja angsterregend. Wrozlawski sagte Jahre später: »Ich habe befürchtet, daß auch hier wie in anderen Lagern der Weg aus der Krankenstube direkt zur Hinrichtung führte.« Es dauerte eine ganze Weile, bis er glauben konnte, was mit ihm und um ihn her geschah.
Schindlers Abmachung mit der örtlichen Gestapo führte dazu, daß insgesamt elf flüchtige Häftlinge in sein ohnedies überfülltes Lager eingeliefert wurden. Alle waren in ihrer zerschlissenen gestreiften Häftlingskleidung aufgegriffen worden und hätten von Rechts wegen auf der Stelle erschossen werden sollen.
1963 fügte Dr. Steinberg aus Tel Aviv ein weiteres Mosaiksteinchen dem Bild vorn bedenkenlos verschwenderisch großherzigen Schindler hinzu. Steinberg war Häftlingsarzt in einem kleinen Arbeitslager im Sudetenland. Der Gauleiter in Reichenberg konnte sich gegen die Errichtung solcher Lager nicht mehr sträuben, seit die Russen Schlesien eingenommen hatten, und Steinbergs Lager gehörte zu den neu eingerichteten. Hier wurden irgendwelche Zubehörteile für die Luftwaffe von 400 schlecht ernährten Häftlingen hergestellt. Es gelang Steinberg, der vom Lager Brünnlitz gerüchteweise gehört hatte, Schindler aufzusuchen.
Diesem beschrieb er die verheerenden Zustände in seinem Lager, und Schindler war sogleich bereit, ihm von den Rationen für Brünnlitz abzugeben. Die einzige Schwierigkeit bestehe darin, einen Vorwand zu finden, der es Steinberg ermögliche, regelmäßig mit einem Lkw nach Brünnlitz zu kommen, um die Lebensmittel abzuholen. Aber auch der fand sich medizinische Versorgung. Und so holte Steinberg denn zweimal wöchentlich Brot, Kartoffeln, Grieß und Zigaretten in Brünnlitz.Wieviel er im einzelnen da abholte, weiß Steinberg nicht zu sagen, doch als Mediziner schätzte er, daß mindestens fünfzig Gefangene in seinem Lager ohne diese Zusatzkost das Frühjahr nicht erlebt
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