Schindlers Liste
Lublin bei der »Entjudung« bewährt hatten. Toffel hatte Schindler vorgeschlagen, für die Arbeiter seiner Nachtschicht Feldbetten in der Fabrik aufstellen zu lassen, andernfalls müsse er bis nach dem ersten Sabbat im Juni mit Produktionsstockungen rechnen. Schindler richtete also im Bürotrakt und in der Munitionsfertigung Schlafsäle ein. Manche Arbeiter waren froh, hier schlafen zu können, andere, deren Frauen und Kinder sie im Getto erwarteten, schworen auf ihren Blauschein und gingen lieber tagsüber nach Hause.
Am 3. Juni erschien Abraham Bankier nicht in der Lipowastraße. Schindler war noch beim Frühstück in der Straszewskiegostraße, als eine seiner Sekretärinnen ihn anrief: Sie habe gesehen, daß sein Geschäftsführer mit anderen aus dem Getto zum Bahnhof Prokocim marschiert sei. Auch einige seiner Arbeiter seien dabeigewesen, Reich, Leser…
Schindler ließ sich den Wagen bringen und fuhr zum Bahnhof. Er wies sich aus und betrat das Bahngelände. Hier standen ordentlich aufgereiht die überzähligen Gettobewohner, immer noch überzeugt - womöglich zu Recht —, daß dies die beste Verhaltensweise sei. Schindler sah zum ersten Mal einen solchen Transport, und die Viehwagen schockierten ihn sehr.
Er bemerkte einen Juwelier, den er kannte. »Haben Sie Bankier gesehen?« fragte er.
»Der ist schon in einem Waggon.«
»Wohin werden Sie gebracht?«
»Angeblich in ein Arbeitslager bei Lublin. Wahrscheinlich auch nicht schlimmer als…«, und der Mann deutete Richtung Krakau.Schindler gab dem Mann alle Zigaretten, die er bei sich hatte, samt einigen Zehnzlotyscheinen. Der bedankte sich; diesmal habe niemand Gepäck mitnehmen dürfen, das solle angeblich nachgeschickt werden.
Schindler hatte im vergangenen Jahr die Ausschreibung für Krematorien gesehen, die in einem Lager südöstlich von Lublin errichtet werden sollten; Belzec hieß der Ort. Er betrachtete den Juwelier. Mitte Sechzig dürfte der sein, ziemlich mager. Vermutlich hatte er im Winter Lungenentzündung gehabt. Er trug einen schäbigen Nadelstreifenanzug, für die Jahreszeit zu warm. Die Augen blickten wissend, fähig, unendliches Leid zu ertragen. Selbst jetzt, im Sommer i94z, ahnte Schindler nicht, welche Verbindung es zwischen diesem Mann und jenen Krematorien geben sollte. Wollte man Epidemien in den Lagern auslösen? War das etwa die Methode?
Schindler ging am Zug entlang, der etwa zwanzig Waggons hatte, und rief Bankiers Namen den Gesichtern zu, die aus den Ventilationsklappen starrten.
Ein junger Oberscharführer, der Erfahrung mit solchen Transporten hatte, fragte nach seinem Ausweis. Schindler sagte: »Ich suche meine Arbeiter. Spezialisten. Ich habe einen Rüstungsbetrieb. Es ist doch schlichte Idiotie, mir die Arbeiter wegzunehmen, die ich brauche, um meine Rüstungsaufträge zu erfüllen.«
»Die können Sie nicht wiederhaben.« Der SS-Unterführer wußte aus Erfahrung, daß alle, die hier waren, den gleichen Bestimmungsort hatten.
Schindler senkte die Stimme zu dem vertraulichen Grollen des Mannes mit guten Verbindungen, der sein schweres Geschütz noch in Reserve hält. Ob der Oberscharführer wisse, wie lange es dauere, solche Spezialisten auszubilden? »General Schindler, ein Namensvetter von mir, hat mich eigens beauftragt, in meiner Fabrik eine Anlage für die Fertigung von Panzerabwehrgranaten einzurichten. Es ist nicht nur so, daß Ihren Kameraden an der Ostfront die Granaten fehlen, sondern die Rüstungsinspektion wird eine Erklärung verlangen.«
Der junge Mann schüttelte störrisch den Kopf. »Ich kenne diese Geschichten«, wehrte er ab, aber schien doch etwas beunruhigt. Schindler merkte das und stieß nach. »Lassen Sie mich mal mit
Ihrem Vorgesetzten sprechen«, und das bereits mit einem leicht bedrohlichen Unterton.
Der Jüngere deutete mit dem Kopf auf einen SS-Offizier. » Dürfte ich Ihren Namen wissen?«
fragte Schindler den und zog dabei ein Notizbuch aus der Tasche.
Der Untersturmführer berief sich ebenfalls auf die Liste. Für ihn bedeutete sie die einzige vernünftige Begründung für all dies Hin und Her von Eisenbahnzügen und Juden. Schindler wurde schroffer. Er habe bereits von der Liste gehört, was ihn interessiere, sei der Name des Transportführers. Er wolle sich sofort mit Oberführer Scherner und General Schindler von der Rüstungsinspektion in Verbindung setzen. »Schindler?« wiederholte der Untersturmführer, jetzt zum ersten Mal aufmerksam geworden, mit einem prüfenden Blick
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